■ Am Wochenende hat die ukrainische Regierung Block I des Katastrophenreaktors von Tschernobyl abgeschaltet. Nach jahrelangem Gefeilsche um die Hilfsmilliarden des Westens erfüllt die Ukraine damit einen Teil der Abmachungen
: Bauernopfer für

Am Wochenende hat die ukrainische Regierung Block I des Katastrophenreaktors von Tschernobyl abgeschaltet.

Nach jahrelangem Gefeilsche um die Hilfsmilliarden des Westens erfüllt die Ukraine damit einen Teil der Abmachungen

Bauernopfer für die atomare Zukunft

Im ukrainischen Tschernobyl läuft seit Samstag abend um 22 Uhr nur noch ein Reaktor von insgesamt vier. Block I wurde nach langen Verhandlungen zwischen der ukrainischen Regierung, der Europäischen Union und den G-7-Staaten endlich planmäßig stillgelegt.

Für die Menschen in der Atomwerkerstadt Slavutitsch, rund 50 Kilometer östlich der Atomkraftwerke von Tschernobyl, kam das Aus für den ersten Block am vergangenen Wochenende nicht überraschend. „Das war ja lange genug vorher angekündigt“, sagt Juri Wolski, der als Ingenieur im dritten Block arbeitet. Den Beschäftigten sei gesagt worden, daß der Block zunächst einmal 20 Tage repariert werden solle. Wenn es aber bei der Energieversorgung in den kommenden Wintermonaten Engpässe geben werde, soll er wieder ans Netz gehen. „Aber nur bis zum Frühjahr, dann ist endgültig Schluß.“

Der Direktor des Standorts Tschernobyl, Sergej Paraschin, sagte allerdings zur Nachrichtenagentur ITAR-TASS, der 1.000 Megawatt starke Block I könne als Reserve für besonders kalte Winter dienen. Juri Wolski, der sein Monatsgehalt wegen Geldmangels der Atomzentrale zur Hälfte in Gutscheinen ausgezahlt bekommt, und die meisten seiner Kollegen sehen die Schließung des ersten Blocks mit gemischten Gefühlen. „Die Direktion hat zwar gesagt, daß niemand entlassen wird. Doch alle hier haben Angst, daß sie arbeitslos werden. Und wo sollen wir denn hin? Die Station, das ist doch unser Brot“, sagt er.

Unlängst habe die Werksleitung vorgeschlagen, für die Arbeiter des AKW mittelfristig eine neue Siedlung zu bauen, auf halbem Wege zwischen Slavutitsch, der „Atomhauptstadt der Ukraine“, und der nächsten Großstadt Tschernigow im Norden der Ukraine. Wo das Geld dafür herkommen soll, weiß niemand. „Die G 7 zahlen doch nur für die Stillegung. Und was aus uns wird, ist denen doch egal“, sagt Juri Wolski.

Die Regierung in Kiew hatte vom Westen eigentlich 4,5 Milliarden Dollar für die Schließung der beiden verbleibenden Blöcke gefordert: Ersatzkraftwerke müßten gebaut werden, um die Bevölkerung im Winter nicht im Dunkeln sitzenzulassen, hieß es. Außerdem müßte ein Konzept für den Sarkophag des explodierten Blocks Nummer IV erarbeitet werden. Eventuelle Bauarbeiten kämen teuer.

Auf dem sogenannten „Atom- Gipfel“ der G-7-Staaten und der GUS Ende April in Moskau unterschrieb der ukrainische Präsident Leonid Kutschma schließlich einen Kompromißvertrag: Die Ukraine erhält 3 Milliarden Dollar (4,6 Milliarden Mark), teils als Zuschuß, teils als Kredit. 300 Millionen Mark sind schon ausgezahlt worden. Als Gegenleistung mußte nun der älteste Block in Tschernobyl stillgelegt werden. Im Block III soll spätestens bis zum Jahr 2000 das atomare Feuer erlöschen.

Der erste Block ist zugleich der älteste am Fluß Pripjat. Baubeginn war 1972, ans Netz ging er 1977. Seine Substanz ist entsprechend marode. Außerdem wären in nächster Zeit neue Brennelemente nötig gewesen, weil ein Teil der im Reaktorkern befindlichen Uranstäbe laut westlichen Experten das Ende der Nutzungsdauer erreicht hat.

Die Stillegung von Block I ist daher ein Bauernopfer für die Atomlobby der Ukraine. Die Milliarden aus dem Westen sollen nicht etwa in alternative Energien fließen. Genausowenig soll die größte potentielle Energiequelle in den maroden Ex-Kombinaten, das Energiesparen, ausgenutzt werden. Das Geld steht für Tschernobyl bereit und für die Fertigstellung der beiden neuesten Atomblöcke an den Standorten Chmelnizki und Rowno. Dann liefen in der Ukraine sechzehn Reaktoren an fünf Standorten – weitere sind geplant. Andernfalls werde Tschernobyl I wieder angefahren, drohte am Wochenende der ukrainische Umweltminister Juri Kostenko.

Auch mit dem Block II im AKW Tschernobyl wird gepokert. Nach einem Brand im Jahre 1991 war das Dach der Maschinenhalle auf die Kühlmittelpumpen gefallen, ein GAU wurde nur knapp vermieden. Seitdem wird einerseits die Maschinenhalle wieder repariert, andererseits von endgültiger Stillegung gesprochen. In der vergangenen Woche kam eine Meldung aus Tschernobyl, Block II solle im Frühjahr wieder ans Netz.

Die Opfer der Tschernobyl-Katastrophe, die Bevölkerung und die vielen „Liquidatoren“ von 1986, werden von all den Hilfsgeldern aus dem Westen wenig spüren. Dabei hat die Regierung der Ukraine noch Glück: Sie hat das Faustpfand Tschernobyl. Das wesentlich stärker vom radioaktiven Fallout betroffene benachbarte Weißrußland konnte bisher kaum offizielle Hilfe anderer Staaten einheimsen. Reiner Metzger/Barbara Oertel