Machtspiel, Fiebertraum

Transportarbeiter seiner eigenen Höllenfahrt: Bruno Cathomas spielt Shakespeares „Richard III.“ in Martin Kušejs Inszenierung in der Volksbühne  ■ Von Petra Kohse

Richard stirbt. Und alle wissen es von Anfang an. Warum, wenn nicht aus Mitleid, sollte man einem wie ihm auf den Thron helfen? Häßlich von Gestalt, plump im Auftreten und von debiler Unverschämtheit im Benehmen. Er kriecht mehr über die Bühne, als daß er läuft, und wenn er lacht, ist es ein greinendes Kichern, bei dem er sich alle Finger in den Mund steckt.

Des dritten Richards skrupelloser Wille zur Macht ist bei Bruno Cathomas der letzte Wille eines Kranken. Da sind diese epileptischen Anfälle, diese Paranoia und sabbernde Gewalttätigkeit, und am Ende wird er gar noch schizophren. Das ist keiner, der irgendjemanden täuschen könnte. Der es fertigbrächte, sich durch Morde und Worte, Versprechen und Intrigen die unverdiente Krone zu erschleichen. Kein gefährlicher Verführer, sondern einer, der sich in die Hose macht, und alle sehen zu.

Unter dem Motto „Freiheit macht arm“ kündigte die Volksbühne die Shakespeare-Inszenierung des 35jährigen Martin Kušej an, ein Österreicher und seit drei Jahren Hausregisseur am Staatstheater Stuttgart. Die Beweisführung überspringend zeigt er jedoch gleich den Umkehrschluß: Wer so offen ohnmächtig und Gefangener seiner Nerven und Triebe ist, wird mit einem Machtspiel belohnt.

Zumal in der geschlossenen Anstalt. Denn Martin Zehetgrubers ansteigend gekrümmte und mit Kies bestreute schmale Bühne läßt sich nicht nur als Eingang in ein Schneckenhaus deuten, sondern gibt mit den nackten, hohen Wänden und den Neonleuchten an der Decke auch einen beeindruckenden Flur in einer psychiatrischen Abteilung ab. Trägt Richard nicht weißen Schiesser-Ripp über seinem braunen, knielangen Nachthemd? Und kehren nicht alle Darsteller, die in einer Rolle ermordet wurden, sogleich in einer anderen zurück, wobei sie zunehmend auch auf Kostüme verzichten und ihre weiße Pflegerkleidung zeigen?

Andererseits gibt es immer wieder Szenen, in denen Elisabeth und Anne, Buckingham, Hastings und Clarence unnatürlich langsam die Bühne betreten oder verlassen, viel langsamer, als es die Vorsicht geböte. Dann liegt Richard wieder ohnmächtig da, zu einigen superzerschrummelten Takten von „Stille Nacht, heilige Nacht“. Vielleicht zeigt Kušej ja doch eher einen Traum, und das fünfsitzige, dezent gemusterte Sofa, das unablässig durch den Raum geschleppt und schließlich als Thron an die Wand gelehnt wird, ist nicht aus dem Aufenthaltsraum geklaut, sondern eine Nachtmetapher für Bürgerlichkeit, die dieser Richard fiebrig zu zerschlagen trachtet. Ach.

Zeit genug für solche Überlegungen ist – in der dreistündigen, pausenlosen Inszenierung, die sich am Rosa-Luxemburg-Platz meist im Dämmerlicht vollzieht. Zu einem Ergebnis führen sie allerdings nicht. Rätselspiele eines Schmuddelkindes und einer starren Hofgesellschaft im Bürgerkleid. Mal mimt Cathomas schwitzend und mit Kippe im Mund den Transportarbeiter seiner eigenen Höllenfahrt und wirft Leichen kollernd in den Abgrund, dann pißt die „Hexe“ und Ex-Königin Margret (Isabella Gregor) in einen mit Blutwasser gefüllten Kinderwagen und ein Dutzend Telefone klingelt schrill.

Irgendwann fällt Regen, das heißt: Alle Wasserdüsen der Volksbühne werden aufgedreht, und es plätschert gleichermaßen auf Freund und Feind, auf Richard und den plötzlich auftauchenden Gegenkönig Richmond, der von Cathomas gleich mitgespielt wird. „Ein Straßenhund, ein Tier von unten bloß“, heißt es über Richard in der Übersetzung von Thomas Brasch. „Das hat keinen Rang und bleibt auch namenlos.“ Und Wasser und Kiesel verbinden sich zu schweren, dezembrigen Bächlein, die leise die Rampe herabtropfen, und von der Bühne weht ein kühler Wind.

Es war, als hätte man einen Blick in ein Automatentheater getan, Grundstimmung düster, fiebrig, desolat, und dann rattert alles so vor sich hin, vieldeutig und beziehungslos. Nach der Dusche wird es von Neuem beginnen und dann wieder und wieder. Ganz am Ende hört man Mahalia Jackson. „Silent Night, Holy Night“, einmal pur. Doch nach drei Takten bricht es ab. Nichts ist so langweilig wie die Resignation.

„Richard III“ von Shakespeare. Regie: Martin Kušej. Bühne: Martin Zehetgruber. Nächste Vorstellungen am 21./22. 12., 19.30 Uhr, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz