Der Massendrang zum Himalaja

Immer wieder überbieten sich die Medien mit Berichten über den gnadenlosen Kommerz mit ungeübten, abenteuerlustigen Bergfexen im Himalajagebiet. Statt Sensationsberichterstattung tut Analyse not, meint  ■ Dominik Siegrist

Mindestens einmal pro Saison bedienen einige Redaktionen ihre Leserinnen und Leser mit einer durch alle möglichen Extreme gespickten Alpenreportage. Dabei darf auch das Foto mit Massenbetrieb am Skilift und überfülltem Parkplatz nicht fehlen – Massentourismus in den Alpen eben. Unterdessen jetten die Touristen aber immer mehr an den Alpen vorbei in den Himalaja. Da erscheint es völlig folgerichtig, daß uns einige Medien mit entsprechender Berichterstattung über Nepal eindecken – letzthin etwa das Nachrichtenmagazin Der Spiegel (37/1996). Da liest man von Reisebüros, die den Kommerz auf die Spitze treiben, indem sie die Besteigung des Mount Everest und anderer 8.000er als Pauschalreisen anbieten. So belagerten diesen Herbst Dutzende von Seilschaften den Gipfel des höchsten Berges der Welt, während unten im Basislager Hunderte von weiteren Bergbegeisterten anstanden. Und als der Sturm kam, blieben einige Reisebürokunden für immer am Berg und mit ihnen auch gleich der Veranstalter. All das aber konnte – immer laut Spiegel – ein deutsches Reiseunternehmen nicht im geringsten vom vorgesehenen Trip auf den Everest abhalten. Immerhin hatte dafür jeder Reiseteilnehmer satte 50.000 Mark auf den Tisch geblättert, inklusive Grußtelegramm vom Bundeskanzler. Sogar Schlachtenbummler hätten sich mit einem Last-minute-Flug angesagt usw.

Doch die Katastrophenberichterstattung von den höchsten Bergen der Welt kommt um Jahrzehnte zu spät. Denn was einige Journalisten für den Himalaja jetzt konstatieren, ahnte der Himalajapionier und britische Kriegsherr in Tibet, Sir Francis Younghusband, bereits 1926: „Millionen hat man in der Schweiz ausgegeben, um die Reize der Bergwelt allen Menschen zugänglich zu machen ... Auch im Himalaja wird man dereinst keine Kosten scheuen, um dem Wandrer die Geheimnisse der Täler, Wälder und Firne zu erschließen.“ Vielleicht dachte Younghusband eher an den indischen Markt und weniger an die Ferntouristen aus Nordamerika und Europa, die 70 Jahre später in Massen anfliegen.

Wer es sich leisten kann, steigt heute für seine Urlaubsreise ins Flugzeug, ungeachtet der ungedeckten sozialen und ökologischen Kosten, die jede Fernreise verursacht. Die Rechnung ist einfach: Bei sinkenden Flugpreisen kann sich das Fliegen eine immer größere Anzahl Menschen leisten, darunter auch Alpinisten und Gipfelsehnsüchtige. Die Mitglieder dieser Zielgruppe verhalten sich als ganz normale Touristen, denen der eigene Geldbeutel der wichtigste Reiseberater ist. Solange der Urlaubsmonat am Cho Oyu weniger kostet als die Ferienwochen unter dem Matterhorn, wird der Trend hin in die Himalajaregion anhalten – sei es für Trekking oder Bergsteigen.

Was jedoch – von den günstigen Preisen einmal abgesehen – zieht die bergsteigenden Scharen denn tatsächlich in den Himalaja? Sind es die erhofften Risikogefühle? Die Chance zur Grenzerfahrung? Das schon beinahe nekrophile Bewußtsein vom allenthalben möglichen Bergtod? Was lockte schon die Bergsteiger des 19. Jahrhunderts in die Alpen? Weshalb zogen im 20. Jahrhundert große Expeditionen los, die mit riesigen Materialschlachten die höchsten Gipfel der Welt zu bezwingen versuchten? Warum gehen die Auflagen der Bücher des Extrembergsteigers Reinhold Messner in die Hunderttausende?

Seit seinen Anfängen war das Himalajabergsteigen vor einer in der abendländischen Moderne ausgeprägten Sehnsucht nach dem Abenteuer gekennzeichnet: das Abenteuer als eine erwartungsvolle Haltung, geboren aus dem Wunsch, etwas anderes, Neues zu erleben, was einem Abwechslung und Distanz zum Alltag (im Industriebetrieb, im Büro, in der Großstadt) verschafft. „Adventure“ heißt denn auch: Es wird eintreffen. Das große Abenteuer des französischen Annapurna-Bezwingers Maurice Herzog begann nach der letzten Besprechung in den Sitzungsräumen der Großstadt. 1950 wurde für ihn „ein unerhörtes Abenteuer, das wir uns nicht vorstellen, aber als Alpinisten vorausahnen können. Die Brücken zwischen den gesetzten, besonnenen Persönlichkeiten und den lebenssprühenden, zum Großteil sonnengebräunten Männern sind abgebrochen.“ Und auch der österreichische Himalajafahrer Herbert Tichy berichtet bei seinen Asienreisen über „wirkliche Abenteuer mit den großen Mächten der Natur“.

In solchen Äußerungen klingt das klassische Gegensatzpaar von „Abenteuer“ und „Zivilisation“ an. Die Bergsteigerreise gestaltet sich als temporärer Ausbruch aus den Zwängen und Kontrollen der bürgerlichen Gesellschaft. Wer allerdings das Abenteuer als Flucht begreift, hat dessen Sinn nicht verstanden, denn das Abenteuer muß ja, um die eigene Wirksamkeit zu erhalten, die Rückkehr in den städtischen Alltag enthalten. Im Himalaja erhält der abenteuerliche Grenzübertritt durch die Fremdheit der bereisten Kultur noch eine zusätzliche Dimension. Es scheint, daß für viele Menschen derartige Grenzübertritte qua Abenteuerurlaub als Bewältigung ihres Lebens zur zwingenden Notwendigkeit geworden sind. Der Kulturwissenschaftler Christoph Köck bezeichnet explizit die Erlebnisgesellschaft als jene Struktur, welche heute gültige kollektive Wertmaßstäbe unbewußt in Frage stellt. Tragen Erlebnisgesellschaft und Abenteuerurlaub wesentlich dazu bei, bestimmte kulturelle Ordnungen aufrechtzuerhalten? Die Anbieter von Expeditionsreisen jedenfalls sind sich des kommerziellen Potentials ihres Produkts bewußt und gehen in ihren Katalogen mit den Metaphern der Expeditionsliteratur gewinnbringend auf Kundenfang.

Es mag sein, daß ausgeprägte halluzinative Erfahrungen den Extremen unter den Bergsteigern vorbehalten geblieben sind. Einige von ihnen haben in ihren Reiseberichten immer wieder davon erzählt und ein millionenstarkes Publikum zu fesseln vermocht. Dabei liegt das Thema Grenzerfahrung auch in der zweiten Hälfte der 90er Jahre im Trend. So begleiten Bergführer Managerseminare zwecks Mutprobe und Adrenalinschub in tiefe Felsschluchten und auf hohe Berggipfel, und Reisebüros werben mit pseudobuddhistischem Mystizismus für Trekkings und Gipfeltouren zwischen Nepal und Tibet. Zum Thema Grenzerfahrung hat aber gerade die Himalajaliteratur einiges zu bieten. Selbst die Psychologie nahm sich dieses Themas an.

Der Bergsteigerpsychologe Ulrich Aufmuth beleuchtete das Problem der Ich-Identität ausführlich, welche der Bergsteiger mit der Besteigung individuell und temporär zu verwirklichen versucht. Der Erstbesteiger des „deutschen Schicksalsberges“ Nanga Parbat, der Tiroler Hermann Buhl, hinterließ uns dazu dank seines Ghostwriters Kurt Maix eine Reihe hervorragender Zeugnisse: „Ja, der große Berg ist das Ziel. Wir müssen versuchen, an ihm selbst zu wachsen.“ Das war bereits 1954, lange bevor Reinhold Messner das Thema bis zum Gehtnichtmehr ausgereizt hat. Nachdem er 25 Jahre später allein auf demselben Gipfel stand wie Buhl, schrieb Messner: „Die Empfindung, alleine noch übrig zu sein, hat einem starken Identitätsgefühl Platz gemacht. Ich und meine Träume sind eins.“ Später setzt er noch eine männliche Kopfgeburt in die Welt, die Idee eines Kindes, das aus ihm selbst heraus allein entstehen könnte: „Mein Wunsch, alles ganz alleine zu machen, etwas allein zu Ende zu führen, selbst zu schöpfen, dieser Wunsch ist nach dem Alleingang auf den Nanga Parbat noch stärker als vorher.“ Das sind die Phantasmagorien eines Extremen, via Medien reproduziert, kommerzialisiert und vom Publikum begierig aufgesogen. Die Erklärung besitzen wir spätestens seit Jürgen Habermas, denn es ist kein Zweifel daran, daß unsere Gesellschaft ein grundlegendes Identitätsproblem besitzt. Wenig erstaunlich, daß expeditionistische Metaphern aktiviert werden, wenn nun auch Otto Normalbergsteiger mit Kameraden auf die hohen Gipfel steigt. Ich-Identität und Grenzerfahrung stellen zwei Seiten ein und derselben Medaille dar. Die umfassende Thematik der Grenzerfahrung wurde von einer philosophierenden Weltanschauungsliteratur im 20. Jahrhundert ausgiebig behandelt. Der deutsche Hermann Warth, Besteiger des Makalu, liefert uns ein Zitat: „Wie einsam wir doch sind! Wie verloren sind zwei Menschen in solcher Höhe, in dieser Arena aus Eis und Fels. Und dennoch überkommt mich keine Bangigkeit. Im Gegenteil. Ganz ruhig bin ich.“ Warths Gang in physische Grenzbereiche führt also nicht, wie es vielleicht zu vermuten wäre, zu einer Auflösung seines Ich, sondern zunächst zu dessen Stärkung. Eine Erfahrung, nach der Bergsteigende übrigens immer wieder süchtig wurden. Oft erscheint deshalb in der Bergliteratur, kaum ist wieder ein Gipfel bezwungen, die Frage nach dem nächsten hohen Ziel. Es scheint, als ob die Bergsteiger, genau wie die Philosophen, ihren wahren Gipfel gar nie erreichen können. Um den erwünschten Identitätsgewinn kontinuierlich von neuem zu erreichen, ist individuell nämlich eine Steigerung der Extreme und damit der bergsteigerischen Ziele erforderlich. Die Kippunkt zwischen Identität und Nichtidentität rückt näher, und das Risiko des Bergtods wächst.

Das kalkulierte Todesrisiko ist fester Bestandteil des Expeditionismus. Im langjährigen statistischen Mittel bleibt jeder dreißigste Besucher auf den Achttausendern zurück. Andere Berechnungen kommen zu noch ungünstigeren Ergebnissen. Bei der Analyse der Bergsteigertexte tritt Überraschendes zutage: Der Bergtod als Nichtidentität hat – scheinbar paradox – gerade das Gegenteil zum Ziel, nämlich die Stärkung des bergsteigerischen Ich. Das Wissen um die Todesmöglichkeit bei den Reisenden stellt eines jener Elemente dar, welche die vorgestellte Qualität des himalajistischen Erlebnisses positiv beeinflussen. Das gilt nicht nur für die Extremen, sondern auch für viele Normalbergsteiger, darunter jene, die ein kommerzielles Angebot zum Everest buchen. Selbst die Katalognotiz eines Veranstalters über den Cho Oyu als sicheren Achttausender, welche den Kunden Vertrauen suggerieren will, transportiert die Information von der Möglichkeit des Bergtods. Reinhold Messner notierte zu diesem Thema, daß der Weg „zwischen Grab und Gipfel“ sehr schmal sei: „Daß man vorher nicht weiß, wo man landet, macht das Sein dort oben nicht sinnvoller. Aber intensiver.“

Der Engländer Bentley Beetham schrieb zum Thema ein halbes Jahrhundert zuvor, nach dem mysteriösen Verschwinden des legendären Paars Mallory und Irvine in der Gipfelregion des Everest: „In jener Nacht begriff ich, daß der Tod der Preis des Lebens ist und daß es dem Menschen auf den Zahltag nicht ankommt, wenn seine Rechnung schnell und glatt erledigt ward.“

Auf heutige Verhältnisse übertragen lassen sich solche etwas abstrakten Sätze etwa im folgenden Satz zusammenfassen: „Lieber für immer im ewigen Eis eines Himalajariesen bleiben, als auf der Autobahn zwischen Berlin und Hamburg zu verenden.“

Hier die Unwirtlichkeit und die Komplexität unserer Städte, da die Erhabenheit, die Wildnis und das Identitätsversprechen der Berge. Mit diesem vielfach strapazierten Gegensatzpaar gelangen wir einmal mehr zu einem zentralen Thema: zum technisch-industriell geprägten Naturverhältnis, zu den abendländisch-modernen Naturbegriffen unserer westlichen Zivilisation und Kultur. Der Berliner Geograph Ulrich Eisel hat dargelegt, daß der frühere Kult der Natur im Bergsteigen einen neuen Ort gefunden hat.

Wie einst der klassische Alpinismus entwickelte sich der Himalajismus in den letzten Jahrzehnten zu einem Terrain, auf dem sich eine zunehmende Anzahl von Natur- und Bergfexen tummelt. Daß sich mit der Zeit gewiefte Geschäftsleute finden, die aus dieser Tatsache ökonomischen Gewinn schlagen, kann kaum verwundern. Auch die großen bergsteigenden Vorbilder taten nichts anderes, als sie sich für klingende Münze mit den Schriftzügen ihrer Sponsoren anschreiben ließen. Doch getreu den vielgepriesenen freiheitlichen Grundwerten unserer Gesellschaft bleibt es letztlich jedem einzelnen überlassen, für einige 10.000 Mark sein Leben an einem Achttausender zu riskieren – sei dies nun mit der vorgegaukelten Sicherheit eines Bergführers oder als individueller Gipfelstürmer und Alleingänger.

Dominik Siegrist: „Sehnsucht Himalaya. Alltagsgeographie und Naturdiskurs in deutschsprachigen Bergsteigerreiseberichten“. Chronos Verlag Zürich. 390 Seiten. 58 sfr. ISBN 3-905311-93-3