Vom Helden zum witzigen Durchblicker

Ein Gegen-Machiavelli: Wie ein Ratgeber für geschicktes Verhalten bei Hofe nebenbei das moderne, sich selbst beobachtende Individuum erfindet – Baltasar Graciáns Klugheitslehre „Der Held“ von 1637 erstmals in Deutsch  ■ Von Dirk Baecker

Wer eine Klugheitslehre schreibt, der tut gut daran, sie so zu schreiben, daß er nicht selbst gegen die Regeln verstößt, die er darin aufstellt. Das gilt auch für Baltasar Graciáns Buch „Der Held“, das 1637 in Spanien erschienen ist und nun erstmals in einer deutschen Übersetzung mit hilfreichen Anmerkungen und einem klugen Nachwort vorliegt.

Wer also wissen will, wie Baltasar Graciáns erster Versuch, seine Klugheitslehre in die Form eines Buches zu bringen, eingeschätzt werden kann, der wende zunächst einmal die Regeln dieser Lehre auf das Buch selber an. Hat er damit Erfolg, dann hat das Buch einen ersten Test bestanden. Allerdings sagt dieser Test noch nichts darüber aus, ob es auch einen zweiten Test bestehen wird, nämlich den, seinen Leser klüger zu machen.

Erster Test: Einige der wichtigsten Regeln der Klugheit sind die Unergründlichkeit der eigenen Fähigkeiten; die Chiffrierung des Willens; die Fähigkeit, zwischen Verstand und Willen zu unterscheiden; ein kritischer Geschmack. Entspricht das Buch diesen Regeln?

Man wird wohl sagen müssen, daß es diesen ersten Test glänzend besteht. Der aphoristische Stil garantiert, daß die Aussagen des Buches immer in wesentlichen Hinsichten unergründlich bleiben. Es gibt Widersprüche wie etwa den Widerspruch zwischen einerseits der Regel, auf die grundlegende Sympathie der Dinge untereinander zu achten, und andererseits der Regel, mit der Schwäche und dem Neid der anderen zu rechnen und ihnen verzeihliche Fehler vorzuspielen, damit sie ihren Neid füttern können.

Diese Widersprüche sorgen dafür, daß viele Regeln durch andere Regeln hinreichend qualifiziert werden, um nicht auf die Idee kommen zu können, sie seien ohne das eigentlich entscheidende Gefühl für die Situation anzuwenden.

Auch Gracián chiffriert seinen Willen. Ob er es darauf anlegt, den perfekten Hofmann zu erziehen oder über die Verhältnisse am Hof kritisch aufzuklären, bleibt systematisch offen. Wahrscheinlich stimmt beides, denn Gracián trauert einerseits den heroischen Zeiten des spanischen Hofes unter den katholischen Königen nach, erkennt aber andererseits, daß diese Zeiten längst vorbei sind und daß daran der Hof selbst nicht unschuldig ist.

Selbstverständlich unterscheidet Gracián zwischen Verstand und Willen. Darin steckt wahrscheinlich sogar die größte und historische Leistung dieses Buches. Er läßt den Helden hinter sich, dessen Funktion es einmal war, mitzureißen und ein Gefühl für Erhabenheit zu wecken und wachzuhalten, dem der Alltag einerseits untergeordnet werden mußte und das den Alltag, wenn er zu diesem Gefühl in der Lage war, andererseits aufzuwerten erlaubte.

Und er beginnt, den Helden auf genau diese Funktion hin zu beobachten und nicht mehr nur den Sinn für das Erhabene, sondern mehr noch den Scharfsinn an ihm zu schärfen. Was aber derart verstanden ist, wird in der Folge so nicht mehr funktionieren. Der kritische Geschmack spielt bei Gracián eine große Rolle.

Es gibt kein Argument, das nicht parallel zu einem Urteil über etwas auch mit zu prüfen versucht, ob dieses Etwas des Urteils auch würdig ist. Kritisch ist ein Geschmack, der sich am Geschmeckten selbst auf die Probe stellt und mißtrauisch mit der Möglichkeit rechnet, letztlich nicht Geschmack, sondern nur Hunger zu haben. Es gibt natürlich noch weitere Regeln, an denen man Graciáns Buch messen könnte. Aber ich belasse es hier bei diesen wenigen.

Hat er also den ersten Test bestanden, so wäre er dem zweiten Test zu unterwerfen, ob denn sein Leser durch das Buch klüger wird. Zweiter Test: Kein Leser ist anschließend klüger, der nur weiß, welche Regeln er zu befolgen hat, um als klug zu gelten.

Kaum irgendwo war Graciáns Klugheitslehre mehr von Nutzen als bei der Beobachtung der Konkurrenten am Hofe (und andernorts), die nur so tun, als seien sie klug, um dem Fürsten zu schmeicheln und die Mitbewerber um dessen Gunst abzuschrecken. Gefährlicher waren allenfalls diejenigen, die ihre Klugheit versteckten, um unbeobachtet ihre Ränke zu spinnen und dann zu triumphieren, wenn niemand mehr einen Gegenzug wußte.

Aber Gracián ging über den Klugen hinaus. Zum Helden wolle er seinen Leser machen, schreibt er im Vorwort, zum Wunder in jeder Hinsicht. Aber macht man jemanden zum Helden, indem man ihm von Helden spricht? Hatten nicht die Tugendlehren dieser Zeit zur Genüge gelehrt, daß man jemanden nur bessern kann, wenn man es ihm leichtmacht, daß man aber jeden Mißerfolg riskiert, wenn man es ihm zu schwer macht? Gab es nicht die Tugendspiegel, die den Mann schwach zeigten, damit er stärker werden könne, und die Frau tugendhaft, damit sie, wissend um ihr Versagen, dies nie wirklich werden könne?

Was also bezweckt Gracián, wenn er seinen Leser zum Helden machen will, zum Wunder in jeder Hinsicht? Er will den Verstand des Lesers wecken. Seinen Willen überläßt er ihm selbst. Der Verstand des Lesers schärft sich daran, die Funktion des Helden zu durchschauen.

Es geht dem Leser hierin wie dem Buch. Nicht mehr darum, dem Erhabenen auf den Leim zu gehen, soll es ihm zu tun sein, sondern darum, gewitzt genug zu sein, dem Erhabenen die Reverenz zu erweisen und zugleich das Spiel ums Erhabene zu beobachten und sich zunutze zu machen. Seinen kritischen Geschmack soll der Leser üben. Er soll den Helden nicht nur erkennen, sondern sich auch fragen, ob er seiner Erkenntnis weiterhin würdig ist. Dann erst wäre auch der zweite Test bestanden.

Darüber jedoch ist noch kein abschließendes Urteil zu fällen. Man kann Graciáns Buch durchaus als Abgesang auf die alte verlorene Zeit der großen katholischen Könige Spaniens lesen. Aber dann würde man nicht klug werden durch das Buch. Wichtiger scheint es zu sein, den Umschlag vom Erhabenen (augustus) zum Gewitzten (acutus) zu sehen, der in dem Buch steckt und der eine Zeitenwende von einer hierarchischen Kultur des Kriegerischen zu einer nichthierarchischen Kultur des Witzes markiert.

Das soll nicht heißen, daß nach dem 17. Jahrhundert keine Kriege mehr stattfanden. Aber sie waren nicht mehr kulturstiftend, sondern sie waren Unfälle. Das soll auch nicht heißen, daß seither der Scharfsinn regiert und die Kritik das letzte Wort hat. Das Gegenteil ist der Fall. Aber nach Gracián war es nicht mehr möglich, sich darauf herauszureden, man hätte nicht beobachten können, worauf es den Helden ankam.

Hannes Böhringer nennt in seinem Nachwort das Individuum den eigentlichen Helden des Buches. Graciáns Held ist das Individuum. Vielleicht ist das Individuum sogar seine Entdeckung und sein wichtigster Einwand gegen Machiavellis „Principe“. Denn das Individuum wird geboren, wenn es erkennt, welche Helden ihm vorgegaukelt werden. Klug ist das Individuum jedoch nur dann, wenn es im rechten Moment auf Scharfsinn auch verzichten kann. Und klüger noch ist es, wenn es entdeckt, daß es diesen Verzicht auf Scharfsinn nicht sich selbst zurechnen kann, sondern einem sechsten Sinn für die Situation. Böhringer liest Melvilles „Billy Budd“ in diesem Sinne.

Am klügsten also ist es, wenn es erkennt, daß seine kritischen Fähigkeiten darin bestehen, sie nicht mehr zurechnen zu können. Aber unter Umständen ist es dann gerade mal da angekommen, wo Gracián mit seinen Beobachtungen einsetzt.

Baltasar Gracián: „Der Held“. Aus dem Spanischen von Elena Carvajal Diaz und Hannes Böhringer, Merve Verlag, Berlin, 93 Seiten, 16 DM

Außerdem ist 1996 vom gleichen Autor erschienen: „Der kluge Weltmann“. Mit einem Anhang von Sebastian Neumeister. Verlag Neue Kritik, Frankfurt, 177 Seiten, mit Abbildungen, 28 DM