Erst der Kick, dann die Moral

Wer sich das Rauchen abgewöhnen will, darf im nächsten Jahr auch zum Nikotin-Nasenspray greifen – Ärzte empfehlen das Mittel nur, wenn die Entzugserscheinungen zu schlimm werden  ■ Von Annette Wagner

Ist es vor allem die Gier nach dem Stoff, dem Nikotin? Oder das Ritual, die Morgen- und die Pausenzigarette? Der schwedische Verhaltenspsychologe Karl-Olov Fageström entwickelte schon vor zwanzig Jahren einen Fragebogen, um herauszufinden, warum jemand süchtig nach Tabakrauch ist. Der sogenannte Fagerström-Test ist noch heute anerkannter Einstieg in jede ärztlich betreute Nikotin-Entwöhnungstherapie. Aber Psychologie allein hilft nicht. Auf dem Sektor der medikamentösen Hilfsmittel gegen die Tabaksucht hat sich seit Mitte der 70er Jahre einiges getan: In Deutschland ist der Nikotin-Kaugummi seit Anfang 1994, das Pflaster seit Mitte 1994 rezeptfrei erhältlich.

Im Frühjahr wird nun ein weiteres Substitutionsmittel auf den deutschen Markt kommen: das Nikotin-Nasenspray. Ein Präparat, das Therapeuten hierzulande zwar nicht als alleinige Entzugshilfe einsetzen wollen, in dem sie aber doch eine stabilisierende Ergänzung zum Nikotinpflaster sehen, das als Basistherapeutikum mittlerweile anerkannt ist. Der zusätzliche Nasenstüber Nikotin könnte ein Rückfallverhütungsmittel sein, wenn körperliche Entzugserscheinungen die ausstiegswilligen Raucher plagen. Oder wenn sie die Situation in Versuchung führt, etwa eine stressige Konferenz oder ein geselliger Kneipenabend.

Die Zwischenbilanz der Entwöhnungstherapeuten ist ermutigend. Ihr Ansatz, das psychologische Abtrainieren des Suchtverhaltens durch kontrollierte Verabreichung von reinem Nikotin physiologisch zu unterstützen, hat sich bewährt. Während nur fünf Prozent der Raucher und den Ausstieg auf eigene Faust ohne Hilfsmittel länger als ein Jahr durchhalten, hebt die zweigleisige Therapie die einjährige Erfolgsquote von 20 auf 30 Prozent. Und nach drei Jahren ist immerhin ein Viertel der Pflasterträger weiterhin clean.

Die Erfolgsquoten konnten noch höher liegen, sagt Fagerström, wenn man verschiedene Substitutions-Präparate kombinieren könnte – was deutsche Therapeuten noch nicht empfehlen dürfen, solange keine klinischen Studien daüber vorliegen. Fest steht nur, daß die permanente Nikotingabe über das Pflaster in den Blutkreislauf bequem ist. Sie kann bei durchschnittlichen Rauchern bis zu zwei Drittel des früher errauchten Nikotinspiegels ersetzen, und lindert damit Entzugserscheinungen wie Kopfschmerzen, Schwindelgefühl und Unruhe.

Stärker Abhängige aber brauchen – erstens – mehr Nikotin und – zweitens – ein schneller wirkendes Praparat: Mit dem Pflaster wird der maximale Nikotinspiegel erst in sechs bis acht Stunden erreicht. Anregend oder beruhigend wirkt Nikotin aber nur, wenn es, wie beim Rauchen, blitzschnell anflutet. Und – drittens – ist für stark Abhängige auch ein habitueller Ersatz nötig: eine sogenannte Ritual Replacement Therapy.

Fagerströms Fazit: Bei überfallartig auftretendem, heftigem Rauchverlangen muß eine Soforthilfe her, die spontan angewendet und individuell dosiert werden kann: der Kick durch Nikotin- Spray oder -Kaugummi. Das Spray führt in fünf bis zehn Minuten, der Kaugummi in 20 bis 30 Minuten zum Nikotinhöhepunkt. Der Psychologe kann sich auf eine 1995 an der kalifornischen School of Medicine abgeschlossene Studie stützen. Sie ergab, daß durchschnittliche Raucher mit dem Ersatzspray allein zwar nur auf ein Drittel ihres früheren Blutnikotinspiegels kommen. Das reichte aber schon aus, die einjährige Abstinenzquote der Probanden von 10 auf rund 20 Prozent zu verdoppeln.

Allerdings ist das andauernde Sprühen – bis zu drei „Nasenhübe“ pro Stunde, also bis zu drei Duzend am Tag, empfehlen die deutschen Hersteller des Sprays – für Patient und Umwelt lästig. Und reizt die Nasenschleimhaut ebenso wie ununterbrochenes Kaugummikauen die Kiefermuskulatur überlastet.

Ist gespraytes Nikotin gesundes Nikotin? Die Frage ist umstritten. Zwar fallen bei der Absorption über die Nasenschleimhaut die beim Rauhen inhalierten krebserregenden und andere Schadstoffe weg. Einer 1992 publizierten Studie zufolge treten bei 80 Prozent der Probanden jedoch zu Beginn der Therapie lokale Nebenwirkungen wie Reizungen in Nase und Rachen, eine verschnupfte Nase und tränende Augen auf. 15 Prozent klagten über Übelkeit, Kopfweh und Schwindel: Auch reines Nikotin, so der Münchner Toxikologe Professor Friedrich Wiebel, kann „körperliche Funktionsstörungen“ hervorrufen. Es aktiviert Blutdruck und Herztätigkeit – was bei dauerhafter Anwendung zu Herzkranzgefäßerkrankungen führen kann. Von einer positiven, für die Motivation zur Abstinenz nicht unwesentlichen Nebenwirkung des Sprays berichtet indes die kalifornische Wissenschaftlerin Nina Schneider: Die gefürchtete Gewichtszunahme fiel in der Spraygruppe geringer aus als bei den anderenProbanden. Statt der üblichen sechs nahmen sie nur drei Kilo zu.

Von eher kommerziellem als wisenschaftlichem Intresse ist die zwischen den Herstellern umstrittene Frage, ob das Nikotinpflaster rund um die Uhr oder nur tagsüber aufgeklebt werden darf. Gegen das 24-Stunden-Pflaster der einen Firma wenden die Hersteller des 16-Stunden-Pflasters ein, daß die nächtliche Nikotinzufuhr zu Unruhezuständen führe. Doch der Tübinger Psychiater Anil Batra, Leiter des einzigen DFG-geförderten Raucherentwöhnungsprojektes, bezweifelt, daß eindeutig feststellbar sei, ob es sich bei der Schlaflosigkeit um ein Nikotin-Entzugssymptom handelt oder ob sie gerade durch das therapeutisch verabreichte Nikotin verursacht wird. Wichtiger wäre es nach Batras Ansicht, sich mit den exakten „Suchtprofile“ zu beschäftigen: Um Therapien maßzuschneidern, müßte jeder Raucher die tägliche Chronologie seiner Nikotinspiegel-Höhepunkte feststellen. Exakt, aber sehr aufwendig läßt sie sich über das Nikotinabbauprodukt Cotinin im Speichel messen. Feierabend- Genußraucher können freilich auch über den Daumen peilen: rund sieben Stunden vor der Reizsituation ist das Pflaster fällig.

Dafür ist immerhin eine gewisse Disziplin erforderlich. Spontan anwendbare Mittel wie der Nikotinspray dagegen können die Sucht lediglich von der Zigarette aufs Entwöhnungspräparat verschieben. Die Meinungen darüber, wie lange man unterstützende Nikotinpräparate anwenden soll, klaffen deshalb weit auseinander. Für eine gewisse Lockerung der verhaltenstherapeutischen Strenge spricht aber, daß ersten beiden Entzugswochen die gefährlichsten sind: Die Hälfte aller Raucher wird in dieser Zeit ruckfällig. Batra würde den zusätzlichen Gebrauch des Nasensprays in dieser Phase deshalb gestatten, aber nur im Rahmen eines klaren Therapiestundenplans, der eine begrenzte Tagesdosis und schrittweises Herabsetzen vorsieht. Der deutsche Hersteller des Nasensprays hingegen empfiehlt gleich drei Monate Sprayen ad libitum plus zwei Monate schrittweises Ausschleichen. Und die amerikanischen und belgischen Studien gehen sogar von sechsmonatigen Therapiezeiträumen und (zumindest anfangs) ebenfalls von unbeschränktem Einsatz des Sprays aus. Um ihren Klienten zu helfen, kommt den Entwöhnungstherapeuten zwar manches Hilfsmittel recht. Aber nicht jedes: Vor der vom Tabakkonzern Reynolds entwickelten „raucharmen“ Zigarette „HI Q“ warnen die im „Ärztlichen Arbeitskreises Rauchen und Gesundheit“ (AARG) zusammengeschlossenen Fachleute. Abgesehen davon, daß das Gemisch aus Tabakextrakt, Nikotin und Glycerin nach Einschätzung des AARG immer noch „beträchtliche Mengen kanzerogener Substanzen“ enthält und gefährlich für das Herzkreislaufsystem ist, liegt der Ersatz verführerisch nah – viel zu nah an der echten Zigarette.