■ Heimatkunde (3): Wie das Schicksal einem späteren Rechts- radikalen einmal statt des Vaters würdigen Ersatz schickte
: Eine Taufe anno 1947

Ein spätromanischer Backsteinbau ragt unweit der dänischen Grenze ins Land: das Gotteshaus von Neukirchen. Von außen fallen seine Treppenfriese ins Auge, das – teilweise veränderte – Südportal, der kastenförmig abgeschlossene Chor und, ebenfalls am südlichen Vorhaus angebracht, die Sonnenuhr von 1756.

Innen, im weißgekalkten Kirchenschiff, erwarten den Besucher unter anderem ein dreiteiliger spätgotischer Schnitzaltar und ein unter der Decke hängender Ankerbalken von 1664. An der gut 40 Jahre jüngeren Kanzel ist noch ein Zeitmeßgerät installiert: eine Sanduhr, gehalten von einem schmiedeeisernen Volutenarm mit Inschrifttäfelchen. Nordisch-ernste Frömmigkeit erfüllt die Stätte, erfüllte den kargen Raum sicher auch in den Jahren, als neben alteingesessenen Neukirchnern viele Flüchtlinge die Kirchenbänke drückten, und sicher ganz besonders, als das Gotteshaus am 24. Oktober 1947 zum Schauplatz einer ungewöhnlichen Kindstaufe wurde. Als Taufpaten des Knaben hatten sich Frau Mina Dies aus Wiesbaden und Herr Fjodor Bartkowski aus dem Lazarett in Glückstadt eingefunden; eingesegnet wurde der Täufling mit Vers 6 aus Tobias 4: Und dein Leben lang habe Gott vor Augen und im Herzen, und hüte dich, daß du in keine Sünde willigst und tust nicht Gottes Gebot. Nicht anwesend bei dieser Zeremonie war jedoch der Vater des Kindes, wiewohl mit der Mutter bereits verehelicht. So mußte diese ihr Söhnchen Werner-Joachim unter ihrem Mädchennamen Bierbrauer ins Taufregister eintragen lassen.

Dahingestellt, ob ihrem Gatten, einem lettischen Waffen-SS- Mann, der Boden zu heiß geworden war oder er nur seine Angetraute leid war – unter seinem Namen wurde der Stammhalter jedenfalls später bekannt: Joachim Siegerist, in der Bundesrepublik mehrfach wegen „Aufstachelung zum Rassenhaß“ angeklagter lettischer Politiker, vormals Bild- und HörZu-Reporter, PR-Berater Ernst Albrechts und Uwe Barschels sowie, in den 80er Jahren, Anführer der reaktionären „Konservativen Aktion“ und Verfasser etlicher Anti- SPD-Pamphlete.

Im Verfolg nunmehr lettischer Karrierepläne unterrichtete Siegerist im März 1995 seine Wähler in der Zeitung Rigas Laiks detailliert über sein Zustandekommen: Im Winter 1946 habe sein Vater eines Abends in einer leeren Flüchtlingsbaracke gesessen. Stundenlang sei er zuvor auf der vereisten Ostsee herumgewandert, um so sein Leben zu beenden, weil er seine Angehörigen daheim für tot hielt – von russischen Soldaten erschossen.

Nachdem das Eis nicht nachgegeben hatte, habe er düster vor sich hingestarrt, als es plötzlich an der Tür klopfte. Eine Frau sei mit den Worten eingetreten: „Ich habe bei Ihnen Licht gesehen und möchte Ihnen ein Geschäft anbieten. Wenn Sie mir eine Glühbirne geben, können Sie von mir Butter haben.“ Auch sie und ihre drei Kinder hatte der Krieg in dieses Lager verschlagen, ihren Mann hatten französische Partisanen zusammen mit einem Wehrmachtszug in die Luft gesprengt. Drei Monate später wären sich Lette und Witwe dann über ein gemeinsames Kind einig gewesen: Werner-Joachim, der am 19. Januar 1947 geboren wurde (und den eisigen Winter in einer Margarinekiste direkt neben dem Ofen überstand).

Seinen getürmten Vater sah Bild-Reporter Siegerist erst in den 70er Jahren wieder – auf Suchanzeigen in lettischen Exilblättern bekam er einen Tip von einer Schulkameradin seines Vaters aus Bristol, die ihn Heiligabend in einer Kirche gesehen hatte. Kurze Zeit später standen sich Vater und Sohn über 30 Jahre nach der Taufe in Midsomer-Norton gegenüber. (Mutter Siegerist: „Und auch da hat er ihn ja erst noch verleugnet.“) Dennoch kann Siegerist sich nicht beklagen: Zur Taufe entsandte das Schicksal würdigen Ersatz – einen nicht gerade häufigen Kirchgänger aus dem nahen Seebüll. Was unser Rechtsradikaler erst 1994 ganz am Rande in einem Pamphlet gegen Schröder, Klose, Engholm und Lafontaine („Das rote Quartett“) erwähnte: „Ich wurde als Kind 1947 in einer kleinen Kirche bei Niebüll (Neukirchen) getauft. Emil Nolde, einer der bedeutendsten Expressionisten, dessen Kunst von den Nazis als ,entartet‘ eingestuft wurde, war damals in der Kirche. Als er die Taufe sah, nahm er seinen Skizzenblock und hielt die Feier auf Papier fest.“

Zu einer näheren Bekanntschaft, so nochmals Siegerists Mutter, „ist es aber nicht gekommen“. So daß Siegerist nur zu seufzen blieb: „Was würde ich dafür geben, wenn ich in den Besitz dieser Skizze kommen könnte!“ Und wir erst. Christian Meurer