Ein Haring geht ins Netz

„To hotel – to gay bookstore – to hotel“, notierte Keith Haring bei einem Besuch in Deutschland. Die Publikation seiner Tagebücher soll den im eigenen Land bisher verkannten Künstler jetzt auch in den USA etablieren  ■ Von Stefan Koldehoff

Im eigenen Land gilt der Prophet nach wie vor nicht soviel, wie er sollte. Während sich 35.000 Menschen in Bochum und 25.000 in Leipzig die Ausstellung seiner „Complete works on paper“ ansahen und die durch Japan und Europa tourende Retrospektive seines malerischen Werkes ein ähnlicher Publikumserfolg wurde, hat in den USA noch immer keine umfassende Haring-Ausstellung stattgefunden. Als Kunsthandwerk gelten dort seine Ikonen aus der Popkultur, als gefällige Reaktion auf den Zeitgeist der achtziger Jahre. „Keith wird als Künstler vor allem von vielen Museumsleuten noch immer nicht ernst genommen“, stellt seine Nachlaßverwalterin Julia Gruen fest. Das soll sich mit der Veröffentlichung der Tagebücher des Künstlers jetzt ändern.

Dutzende von Heften und Kladden hatte Keith Haring hinterlassen, als er im Frühjahr 1990 im Alter von 31 Jahren an Aids starb. Die darin enthaltenen Notizen, Skizzen und Zeichnungen habe Haring nicht nur im Bewußtsein angelegt, daß sie dereinst von anderen gelesen würden, behaupten nun die HerausgeberInnen Julia Gruen und David Stark in ihrer editorischen Notiz: „Er hat es erwartet.“

Entsprechend sorglos gehen beide mit dem schriftlichen Nachlaß um. Auslassungen sind nicht gekennzeichnet, die Auswahlkriterien für die alles andere als kritische Edition werden nicht erläutert. Gedruckt wurden Passagen, in denen Haring über Ausstellungen berichtet, die er gesehen hat, über neu ausprobierte Drucktechniken, über sein Studium an der School of the Visual Arts und über Gespräche mit anderen Künstlern.

„Der beste Grund zu malen ist, daß es keinen Grund zu malen gibt“, banalisiert er am 25. Juni 1986 in New York, um zwei Wochen später, am 7. Juli 1986, in Montreux einige zentrale Sätze über seine Kunst aufzuschreiben, in der die einfache Linie die zentrale Rolle spielt: „Das Leben ist so zerbrechlich. Es gibt eine sehr feine Linie zwischen Leben und Tod. Ich merke, daß ich auf dieser Linie gehe. Und wenn ich sterbe, ist da niemand mehr, der meinen Platz einnimmt. Im Moment arbeitet niemand, der auch nur annähernd meinem Stil, meiner Einstellung oder meinen Prinzipien ähnelt. Ich meine das ernst. Wahrscheinlich gilt das für viele Menschen (oder alle), weil jeder ein Individuum und wichtig ist und niemand ersetzt werden kann. Aber gerade jetzt gibt es auf der ganzen Welt niemanden, der gemeinsam mit mir in einer Gruppe zusammengefaßt und eine ,Bewegung‘ genannt werden könnte.“

Das Verfahren der literarischen Mythenbildung bei ausbleibendem künstlerischen Erfolg hat durchaus Tradition. Schon van Goghs Schwägerin Johanna entschied sich 1914 für die Publikation des Briefwechsels zwischen dem Maler Vincent und seinem Bruder, ihrem Mann Theo van Gogh. Dem bis dato eher schleppenden Absatz der Werke van Goghs tat die Buchveröffentlichung mehr als gut: Noch während des Ersten Weltkriegs brach vor allem in Deutschland ein regelrechter Van- Gogh-Boom aus.

Auf einen ähnlichen Effekt hofft nun der von Julia Gruen geleitete „Estate of Keith Haring“ durch die Publikation der Tagebücher. Begleitet wird sie in den USA von einer Internet-Offensive. Unter http://www.haring.com können Interessenten neben einer Ausstellungsliste auch Fotos abrufen, die Haring mit prominenten Fans wie Michael Jackson oder Dennis Hopper zeigen.

Ob die PR-Aktionen die Museumskuratoren allerdings überzeugen werden, ist eher fraglich. Harings Tagebücher sind keine eigenständigen Argumente, weil Keith Haring kein selbstreflexiver Künstler war. Seine Kunst entstand spontan und schnell, verarbeitete subjektive Momenteindrücke und nicht die Auseinandersetzung mit der Kunstgeschichte. Mickymaus und Warhol waren sein Bezugssystem, Coca-Cola und der Broadway – nicht Dubuffet und Stella, Alechinsky und Pollock, wie Robert Farris Thompson in seiner elogischen Einführung weismachen will. Ein großer Künstler wurde Keith Haring durch seine Unabhängigkeit und durch die Ehrlichkeit, mit der er allen Protagonisten die Gefolgschaft verweigerte.

Daß Harings Tagebücher nun vorliegen, ist dennoch ein Glücksfall. Die Kladden und Notizhefte sind nämlich, anders als etwa die durchstilisierten und inszenierten Tagebücher Andy Warhols, ein authentisches Zeugnis dafür, wie rücksichtslos die Gesellschaft am Ende des 20. Jahrhunderts mit ihren Künstlern umgeht. Der erste veröffentlichte Eintrag vom 29. April 1977 füllt noch eine vollständige Druckseite. Beinahe täglich folgen lange Texte, ein schnelles Selbstporträt, eine New-York- Skizze, helfen die „Journals“ bei der Entwicklung neuer Motive.

Gegen Ende seines Lebens findet Haring dafür keine Zeit mehr. Allenfalls im Flugzeug kommt er noch zum Schreiben. Einer der letzten veröffentlichten Einträge spiegelt jene Zerrissenheit, die längst durch die Erwartungshaltung des Marktes entstanden war. Haring selbst war zum Markenzeichen geworden, als er im Frühjahr 1989 zum letzten Mal Deutschland besuchte – berühmt, aber einsam:

„Tuesday, 18 April

See exhibition of Max Ernst collages

w/man who curated it.

To factory to see new scultpure.

To paint factory to see progress.

To Museum (Island) outside Düsseldorf.

To dinner w/collectors and Hans.

To Hans's gallery to do interview

w/Gabriele Henkel.

To hotel – to gay bookstore – to hotel.“

„Keith Haring – Journals“. Vorwort von David Hockney. Einführung von Robert Farris Thompson. 300 Seiten mit zahlreichen S/W- Abb., Hardcover. Wiking Books, New York.