Ungesund gelb-violetter Alptraum

■ Suggestiv, fesselnd, aufputschend: „The Mother of Black-Winged Dreams“ in der Opera stabile

Ein jovialer Kritiker der polnischen Zeitung Zycie Warszawy befand nach der Uraufführung von Hanna Kulentys Orchesterwerk ad unum: „Ich hatte vorher noch nie eine so großartige, von einer Frau komponierte Musik gehört. (...) Seit langer Zeit hatte ich wieder einmal das Gefühl, daß eine Komposition hätte länger dauern sollen. War das eine neue Offenbarung polnischer Musik?“

1985 war Hanna Kulenty 24 Jahre alt und rückte mit ad unum ins Rampenlicht europäischer, dann aber hauptsächlich holländischer Konzertpodien. Von Wlodzimierz Kotonski, einem der einflußreichen und experimentierfreudigsten Komponisten Polens, erhielt sie in eben diesem Jahr ihr Kompositionsdiplom. Ad unum war ihr Gesellinnenstück, eine Kraftetüde für den klassischen Orchesterapparat. Die Jahre danach zog es sie nach Holland, wo sie bis 1988 bei Louis Andriessen studierte. Heute lebt sie sowohl in Holland als auch in Polen. Elf Jahre nach ihrem fulminanten Debüt wird die polnische Komponistin auch in Deutschland entdeckt. Dezember letzten Jahres fand im Rahmen der Münchener Biennale die Premiere ihrer ersten Oper statt, The Mother of Black-Winged Dreams. Als Kooperation mit der Hamburgischen Staatsoper wurde diese Produktion jetzt zum ersten Mal in Hamburg präsentiert.

Mit dem Begriff Oper läßt sich Kulentys Bühnenmusik kaum fassen. Weder sind Gesang noch Textverständlichkeit und schon gar nicht eine narrative Handlung wesentlich. Vielmehr ist die hier inszenierte Bildermusik zum Thema Persönlichkeitsspaltung sehr stark am kinoartigen Sehen orientiert. Mit Super-8-Projektionen wird der Tatort vorgestellt. Ein deutsches oder anderswo befindliches Siedlungshaus ist zu sehen. Das flackernde Standbild gehört in jene Tradition schauriger Un-Orte, die äußerlich so unschuldig wirken, im Inneren aber unvorstellbare Scheußlichkeiten verbergen.

Clara (Christa Bonhoff), die als Doris-Day-Klischee mit rotem T-Shirt und stahlblauem Rock kostümierte Protagonistin, entscheidet sich gegen den Selbstmord. Sie spaltet sich in vier Personen auf, um ihre Kindheitstraumata und andere seelische Beschädigungen zu verarbeiten. Der weitere Handlungsverlauf beschreibt diese Zustände in allegorischen, choreographierten Bildern von schockartiger Präsenz. Violettes, auch ungesund gelbes Licht beleuchtet eine bizarre Krankenschwester und den bösen Onkel, hier mit Namen Woodraven (Kurt Gysen), die zusammen ein seltsam vertrautes Personal perverser Machtdispositive bilden.

Regisseur Claus Guth und sein Ausstatter Christian Schmidt bewegen diese personifizierten Alpträume in einem trostlosen Ambiente deutscher Gemütlichkeit, Kunstdrucke auf Blümchentapete, Kaufhausmobiliar, dazu der obligate den Raum überwachende Fernseher, definieren ein bürgerliches Grauen, wie man es sich nicht finsterer ausmalen könnte.

Die Stadien obszöner Mißbrauchsrituale werden konsequent durchschritten. In solchen Momenten ist die Inszenierung besonders nah zum Film und das Szenario könnte aus amerikanischen Psychothrillern von David Lynch oder Brian de Palmas entsprungen sein. Glücklicherweise erlag diese Inszenierung nicht dem verlockend aktuellen Themenangebot der Sensationspresse. Kulentys für sieben Instrumentalisten (Leitung: Paul Weigold) eingerichtete und um einen elektronischen Klangteppich geweitete Bühnenmusik kam suggestiv, fesselnd und aufputschend daher. Eine tranceartige, enorm sinnliche Pulsmusik packte den Betrachter, ließ ihn nicht mehr locker. Hämmerakkorde, die an Glenn Brancas Gitarrensymphonien erinnern, peitschten dem eliminatorischen Höhepunkt entgegen. Glockenspiel, Röhrenglocken und von Flöte und Klarinette getragene Unschuldsmotive färbten dann die Atmosphäre mit pathologischen Klangfolien, versetzten den Betrachter in die weit zurückliegende heile Welt eines kleinen Mädchens. Wir sahen Clara so in einer weiteren Super-8-Sequenz, noch lächelnd und in Begleitung eines ebenfalls lächelnden Vaters.

Rolf Brenner