Kapitalisten gegen Militaristen

■ Ein Memorandum des türkischen Unternehmerverbandes fordert eine radikale Demokratisierung der Gesellschaft

Istanbul (taz) – Ein Memorandum des türkischen Unternehmerverbandes TÜSIAD erstaunt derzeit die türkische politische Öffentlichkeit. „Perspektiven der Demokratisierung in der Türkei“ heißt der Bericht. Der Bericht, den der Vorsitzende des Verbandes, Halis Komili, dem türkischen Parlamentspräsidenten Mustafa Kalemli, Staatspräsident Süleyman Demirel sowie Ministerpräsident Necmettin Erbakan überreichte, beschränkt sich nicht auf Analyse und Kritik der politischen Verhältnisse, sondern enthält auch einen umfassenden Katalog zur Änderung des bestehenden Verfassungs- und Rechtssystems.

Die Forderungen des exklusiven Verbandes, der nur die Bosse der Großkonzerne als Mitglieder aufnimmt, sind für türkische Verhältnisse revolutionär. Einzeln sind die Paragraphen der türkischen Verfassung aufgelistet, die die Grundrechte einschränken. Sie sollen komplett gestrichen werden.

Das Polizeigesetz, das die Polizei mit außerordentlichen Vollmachten ausstattet, soll einer gründlichen Revision unterzogen werden, alle Strafrechtsparagraphen, nach denen Intellektuelle wegen Meinungsäußerungen und kritischen Publikationen abgeurteilt werden, sollen gestrichen werden, ebenso wie der berüchtigte Paragraph 8 des Antiterrorgesetzes, der „separatistische Propaganda“ ahndet. Überhaupt brauche die Türkei rechtsstaatliche Strukturen, in denen Menschen wegen ihrer Gesinnung nicht verfolgt werden.

Auch in der kurdischen Frage fordert TÜSIAD eine weitgehende Liberalisierung – kurdisches Fernsehen soll es ebenso geben wie muttersprachlichen Unterricht in den Schulen.

Und nicht zuletzt kratzt die bourgeoise Vereinigung an dem heiligsten Tabu des Regimes: Der Nationale Sicherheitsrat, in dem die mächtigen Militärs den Ton angeben und Grundlinien der Innen- und Außenpolitik faktisch dekretieren, soll als Verfassungsinstitution gestrichen werden – eine Ironie der Geschichte, hatte doch just TÜSIAD 1980 die Militärs mit Erfolg zum Putsch ermuntert.

Heute klatschen die Gewerkschaften, die kurdische Partei Hadep, Teile der politischen Opposition und außerparlamentarische linke Gruppierungen TÜSIAD Beifall, während Regierungsparteien und Militärs grollen. „Hinter ganzen Passagen steht die PKK“, kanzelte der stellvertretende Vorsitzende der „Partei des Rechten Weges“, Cihan Pacaci, den Bericht ab. „Diejenigen, die zum Skifahren die Schweizer Alpen bevorzugen, können nicht die Probleme der Türkei lösen, indem sie mit Intellektuellen Whiskey in ihren Villen am Bosporus trinken“, kommentierte Industrieminister Yalim Erez, Parteifreund und enger Vertrauter von Außenministerin Tansu Çiller.

Auch die islamistische „Wohlfahrtspartei“ unter Ministerpräsident Necmettin Erbakan ist dem Demokratisierungspaket der Unternehmer nicht wohlgesonnen. Neben der Ausweitung der Grundschulpflicht von fünf auf acht Jahre wird nämlich die staatliche Kontrolle der Koran-Kurse gefordert. Ebenso sollen die staatlichen religiösen Gymnasien reduziert werden. Ömer Erzeren