Schmuckstück und „Ascheimer“

■ St. Pauli ist ein Symbol für Hamburg. Der Alltag sieht jedoch nicht halb so bunt aus, wie manche ihn gerne malen

Tunten (Schmidt-Theater), Terror (Hafenstraße), Tore (FC St. Pauli): Von Prostitution über Hafenstraße bis zum angeblich linken Fußballkult ruft Hamburgs einzig über die Stadtgrenzen hinaus bekannter Stadtteil eine Kette bunter Bilder wach. St. Pauli ist nach wie vor ein Symbol für Hamburg – wie das Hafenkrankenhaus ein Symbol für St. Pauli ist.

Der Alltag der meisten St. Paulianer sieht allerdings nicht halb so bunt aus, wie ihn Szeneasten gerne malen. 17 Prozent der Bevölkerung leben von Sozialhilfe (in Hamburg: sieben Prozent), das Durchschnittseinkommen ist halb so hoch wie im Rest der Stadt. Knapp die Hälfte der 31.700 Bewohner sind Nichtdeutsche.

Junge Leute ziehen der Coolness und Mieten wegen gerne nach St. Pauli, verlassen das Viertel aber fluchtartig, sobald Kinder da sind. Bürgerinitiativen wehren sich gegen eine Ausbreitung des Straßenstrichs in die Wohngebiete hinein; die Angst vor Drogen hat sich festgesetzt. Entsprechend stark gewachsen ist die Furcht, Opfer von Gewalt zu werden – obwohl St. Pauli nach wie vor eines der sichersten Viertel Hamburgs ist.

Senatsprogramme zur Verbesserung der Lebensqualität im Hafenviertel gibt es zuhauf. Über ihren Nutzen wird in der Stadt trefflich gestritten. Denn St. Pauli weist die größte Dichte an sozialen Einrichtungen auf. Drei Viertel des Gebiets von St. Pauli waren oder sind Sanierungsgebiet; ein Armutsbekämpfungsprogramm soll seit 1994 auch „schwer Vermittelbaren“ einen Job bringen.

Ältere Bewohner des Stadtteils weisen indes darauf hin, daß St. Pauli nie ein Schmuckstück der Kaufmannsstadt war. Ende des vorigen Jahrhunderts etablierte sich das Grenzviertel zwischen der einst dänischen Stadt Altona und der Freien und Hansestadt Hamburg als Vergnügungsviertel. Mitte der dreißiger Jahre versuchten die Nazis, aus dem alten St. Pauli einen mustergültigen Sanierungsfall zu machen: Das scheiterte, wie auch spätere Bemühungen, den „Ascheimer der Stadt“ (ein Sozialdemokrat in den sechziger Jahren) zu reinigen.

St. Pauli hat stets Konjunkturen erlebt: Noch Ende der Fünfziger bediente ein Sänger wie Freddy Quinn mit seiner erfundenen Biographie, in Reeperbahn-Nähe geboren worden zu sein, der Deutschen Seefahrerromantik. Doch ein Idyll waren die Quartiere am Hafen schon damals nicht: St. Pauli war ein Rotlichtviertel, in dem vor allem eine Branche gedieh – die der sexuellen Leibesübungen.

Anfang der achtziger Jahre war Schluß mit lustig: Aids raffte diesen Wirtschaftszweig dahin. Erst als die grünalternative Szene sich auf dem Kiez breitmachte, kam St. Pauli wieder in ein besseres Licht. Nicht zuletzt davon haben sich auch Immobilienspekulanten anlocken lassen, die sich seither um jeden Quadratmeter bekriegen. Übersehen haben Bürgermeister Henning Voscherau und seine SPD-Rechten darob auch das wachsende Armutsproblem. Die Schließung der Klinik komplettiert das Gefühl vieler St. Paulianer, zu den Betrogenen zu gehören.

St. Pauli – ein aufgegebenes Viertel? Corny Littmann, Prinzipal des Schmidt-Theaters, sagt: „Der Senat hat nicht damit gerechnet, daß das Hafenkrankenhaus solch eine identitätsstiftende Bedeutung hat.“ Die SPD möchte nun schnell lernen: Im Herbst drohen ihr Bürgerschaftswahlen. J. Feddersen & U. Winkelmann