Strafphantasien

■ "Herzen in Aufruhr" ist ein Film nach dem finstersten aller viktorianischen Romane: Thomas Hardys "Jude the Obscure"

Schon wieder ein Film nach einem englischen Roman des 19. Jahrhunderts, und wieder ist Kate Winslet dabei, die letztes Jahr mit Emma Thompson in „Sinn und Sinnlichkeit“ (nach Jane Austen) den Goldenen Bären errang. Das Erfolgskalkül scheint klar, man will mit „Herzen in Aufruhr“ von der Hausse der romantischen Kostümfilme profitieren.

Warum aber ausgerechnet Thomas Hardys Roman „Jude the Obscure“ als Vorlage? Dies ist das finsterste Buch seines Autors und einer der grausigsten Stoffe seiner Zeit, des späten Viktorianismus (erschienen 1895). Man könnte dazu bösartig bemerken, daß erstens nach dem Boom der letzten Jahre unter den in Frage kommenden Klassikern mit ausreichendem Wiedererkennungswert nicht mehr allzu viele übrig sind; zweitens sind Hardys andere große Romanerfolge, „Tess“ und „Far from the Madding Crowd“, schon vor Jahren respektive Jahrzehnten verfilmt worden.

Das ist freilich zu kurz gegriffen. Michael Winterbottom, glaube ich, will den Kostümfilmfreunden eine Falle stellen: Er wird sie also in Held und Heldin verliebt machen. Er wird sie um den Waisenjungen Jude (Christopher Eccleston) zittern lassen, der an die Universität will, weil man ihm gesagt hat, dort könne man alles werden und sich eine Zukunft aussuchen. Er wird sie um Sue (Winslet) bangen lassen, Judes schöne und selbstbewußte Kusine, eine Lehrerin, die Zigaretten raucht und sich als Freidenkerin gibt. Er wird sie um Judes und Sues Liebe fürchten lassen, deren Recht gegen Macht und Gewohnheit erkämpft werden muß – denn diese Liebenden halten die Ehe für eine Herzenssache und verweigern sich der Legalisierung ihrer Bindung. Und wenn das Publikum dann erst mitansehen muß, wie die Kinder der beiden darunter leiden, daß die Gesellschaft eine autonome Liebe wie diese, auf nichts als wahrem Gefühl beruhend, wie eine tödliche Gefahr bekämpft – dann hat Winterbottom gewonnen.

Denn jetzt holt er zum Schlag aus. Eben noch läßt er uns aufatmen: Jude hat zwar seine akademischen Aufstiegsträume endgültig begraben müssen, aber nun hat er doch endlich wieder eine Anstellung als Steinmetz gefunden, die es ihm erlaubt, die Familie zu ernähren. Und in diesem Moment senkt sich die Faust nieder. Erster Hieb: Der kleine Jude, der sich als uneheliches Kind aus seines Vaters erster Verbindung schuldig fühlt für die Ablehnung der aufrechten Bürger, erdrosselt die Schwester, um sich dann selbst zu erhängen. Zack, zweiter Hieb: Die Liebe von Jude und Sue zerbricht an der Tragödie. Sie verläßt ihn und wird aus Schuldgefühl zur Frömmlerin. Jude irrt umher, verarmt, vereinsamt, verachtet. Sie sehen sich noch einmal am Grab der Kinder. Zack, und Schluß. Glotzt nicht so romantisch!

Dabei kann sich dieser niederschmetternde Film durchaus auf die Vorlage berufen. Hardys Buch ist vom gleichen doppelten Impetus getrieben.

Das Plädoyer für freie Liebe und freie Bildung ist nur die Tagseite dieses Stoffs, die Nachtseite verzeichnet dunkle Strafphantasien, ausgelöst von eben jenen Freiheitswünschen. Der Autor verteidigt ein Paar, das aus der göttlichen Weltordnung im Namen des neuen Liebesregimes austritt – um dann eben jenes Paar mit gottgleicher Gewalt durch Schicksalsschläge zu vernichten.

Das sollen wir gesellschaftskritisch lesen, und so wurde es auch lange getan. Hardys Roman wurde ein Skandal, weil man darin die heilige Institution Ehe angegriffen sah. Der Film von Michael Winterbottom will sich hier anhängen. Leider hat man auf der Suche nach einem Stoff, der sich in Kostümen spielen läßt und doch, scheint's, aktuell ist, die Fremdheit der Hardyschen Welt ignoriert. Im Roman heißt der Junge nicht Jude wie sein Vater, sondern „Little Father Time“, ist greisenhaft und depressiv und läßt von Ferne her den Untergang des Abendlandes ahnen. Der Selbstmord eines unehelichen Kindes aus verweigerter Liebe ist Hardys Allegorie auf den verdienten Niedergang des modernen Menschen. Im Film, der so weit nicht hinauswill, bleibt ziemlich unverständlich, warum der kleine Jude die schreckliche Tat vollbringt. Ich fürchte, und das ist mein Haupteinwand gegen diesen stellenweise – dank der wunderbaren Kate Winslet – gelungenen Film, ich fürchte, Winterbottom hat sich dafür einfach nicht weiter interessiert. Die Tat verschwimmt in einer dunklen Ahnung, „die Gesellschaft“ beziehungsweise die „Ausgrenzung“ aus ihr seien schon Grund genug. Das aber sind moderne Moritaten, unhöflich gesprochen: Das ist Sozialkitsch. Jörg Lau

„Herzen in Aufruhr“. Regie: Michael Winterbottom. Mit Christopher Eccleston, Kate Winslet, Rachel Griffiths u.a. GB 1996, 122 Min.