Ein matratzendicker Riß spaltet unsere Gesellschaft. Begibt sich der Langschläfer ins soziale Abseits, wie die einen glauben, oder irrt der frühe Vogel, der den Wurm fangen will? Oder, anläßlich der Debattenwoche auf der Wahrheit, anders au

Pro

Immer noch sind wir Frühaufsteher Zielscheiben von Spott und Hohn. Höchstens falsche Samariter haben manchmal ein mitleidiges Lächeln für uns übrig, weil sie in unserem Leben Zwang und Fron sehen oder uns als eine Existenz betrachten, die kaum mehr zu bieten hat als schlecht entlohnte Arbeit zu früher Stunde: Straße kehren, Zeitung austragen oder ganz kleine Brötchen backen. Man reduziert uns auf die Zeit vor dem ersten Hahnenschrei, auf summende, piepende, schrillende Wecker, die wir grausam mißhandeln würden, nur um danach schlechtgelaunten Radiomoderatoren zu lauschen, wie sie über nichtige Statistiken meditieren wie den durchschnittlichen Schweinerippchenverbrauch pro Tag und Kopf in Deutschland.

Die Statistiken sind freilich von professionellen Langschläfern geplant, um uns in der Frühe zu erledigen und anzustecken mit ihrem Muff monatelang getragener Schlafanzüge oder den verseuchten Wolken aus einem Mief, der unter Federdecken entsteht, wenn sich unkontrolliertes Gepupe vermengt mit Käsemauken und billigstem Intimschweiß. Aus diesem Gemisch werden dereinst schrecklichste Mutationen entweichen: fiebrige Viren, säbelzahnartige Bakterien, Einzeller von der Form Helgolands, Pantoffeltierchen mit dem Genmaterial eines Killerwals; Krankheitserreger, gegen die die schwarzen Blattern niedliche Kerlchen gewesen sein werden.

Dagegen stehen wir morgens auf unseren Balkonen und saugen die klare Luft des frühen Tages durch unsere Nasen, als wäre sie reines Vitamin C. Unser Geist besitzt dann die Klarheit eines eisblauen Gebirgssees. In diesen Momenten wissen wir, daß die Zeit der Gerechtigkeit gekommen ist und die Geschichte unsere Lebensweise nicht nur rehabilitiert, sondern auch zum Vorbild erhebt: Frühaufsteher sind sexy, tatendurstig und haben eine gesunde Hautfarbe.

Denn unmerklich haben sich die Gewichte verschoben. War der lange Schlaf vor kurzer Zeit noch ein Luxus der Reichen, so ist er jetzt Geißel der Armen. Millionen von Frührentnern, Sozialhilfeempfängern und Arbeitslosen können bis in die Puppen schlafen, ratzen und pennen, ohne daß sie jemand vermissen würde. Im Gegenteil. Es gibt zu viele von ihnen. Ebendeshalb werden wir, die Frühaufsteher, zu raren Exemplaren. Schließlich gehören wir zu dem exklusiven Club von Männern und Frauen, die nicht liegen bleiben müssen, sondern aufstehen können; die kämpfen, mobil sind und leistungsbereit. Wir haben eine Aufgabe und erwarten noch mehr vom Tag, als daß man uns gepreßte Materie als Gourmet-Pizza andreht oder wir dabei sind, wenn vor Ladenschluß bei Aldi die übliche Schlägerei um eingeschweißten Lachs aus den Folterkellern norwegischer Fischzüchter losgeht.

Wer vor diesem Hintergrund heute noch die Langschläferei predigt, handelt gegenüber seinen Lesern, vor allem aber gegenüber der leicht beeinflußbaren Jugend, verantwortungslos. Und wer immer noch gegen das Frühaufstehen protestiert, will aus dem Standort Deutschland ein Schlafzimmer machen. Kein Zweifel: Wir müssen wieder lernen, den Tag um fünf Uhr morgens zu beginnen. Ansonsten werden wir bald von den kernigen Asiaten der dynamischen Tigerstaaten aufgekauft, ausgeplündert und schließlich in den letzten Schlaf geschickt. Volker Heise

Contra

Morgens, neun Uhr in Deutschland: Zu dieser Stunde gönnen sich große Teile der Bevölkerung ihr zweites Frühstück. Ich wiederhole: ihr zweites Frühstück. Zuvor, von sieben bis neun Uhr, haben sie gesägt und gehämmert, Gerüststangen zu Boden scheppern lassen und so sichergestellt, daß niemand ihr Tagewerk ignorieren kann. Und jetzt machen sie eine Pause. Diese zwei Stunden Ruhe haben sie sich verdient, meinen sie, denn schließlich sind sie ja schon früh aufgestanden.

Wer einigermaßen ausgeschlafen ist, kann ob dieser Logik nur verzweifeln – der Irrsin regiert. So ist es zwar über hundert Jahre her, daß die Glühlampe erfunden und das Aufstehen mit den Hühnern überflüssig wurde – der Frühaufsteher jedoch führt sich auf, als gelte es immer noch, jede Sekunde Tageslicht ausnutzen zu müssen. (Die Hühner dagegen leben längst in einem modernen, licht- und ferngesteuerten Biorhythmus.) Mit rotgeränderten Augen schwärmen sie von „diesem herrlichen Morgen“, von Vogelgesang und Tatendrang. Dabei sind Frühaufsteher bloß Wichtigtuer: „Seht her“, sagen sie, „ich bin mitten in der Nacht auf dem Weg zu meinem Arbeitsplatz, weil ohne mich praktisch alles zusammenbrechen würde!“ Beziehungsweise, am Wochenende: „Seht her! Ich bin mitten in der Nacht auf dem Weg zum Bäcker, weil das Wochenende ohne mich zusammenbrechen würde!“ Es ist sinnlos, solchen Menschen zu sagen, daß ihr albernes Gebaren nur von anderen Frühaufstehern wahrgenommen werden kann. Alle anderen sind schließlich noch im Bett.

Und ginge es nur um Frühaufstehers Angeberei, so würde ich schweigen. Der Frühaufsteher fordert jedoch von seinen Zeitgenossen, es ihm gefälligst gleichzutun. In Gestalt eines Elektrikers etwa will er einen Termin für sieben Uhr ausmachen. Wer daraufhin erklärt, das sei ihm zu früh, bekommt diese Antwort: „Dann halb acht.“ – Es ist an der Zeit, sich dieser Terrorherrschaft zu verweigern. Denn die Welt könnte so schön sein wie nachstehend:

Was stets den frühen Vogel wurmt: / Kommt er des Morgens angeturnt /sein Frühstück aus dem Gras zu ziehn: / Da schnarcht der Wurm noch vor sich hin.

Der Vogel trampelt aufgeregt / die Halme platt, ruft unentwegt: / Würmer! Wollt ihr ewig dösen? / Euch nie von euren Träumen lösen?

Der Wurm geht nämlich spät zu Bett / sitzt vorher noch vorm TV-Set / und schaut sich Hitchcocks „Vögel“ an / Weshalb er dann nicht schlafen kann.

Dann raucht der Wurm, trinkt noch ein Glas / summt Wurmmusik und denkt sich was / wird ruhiger, langsam schläfrig auch / dreht 's Licht aus und sich auf den Bauch.

Carola Rönneburg