„Aber sein Grab ist hier“

Wer Frank Böttcher erstochen hat, weiß noch niemand. Seine Freunde halten Mahnwache und glauben an rechte Täter. Die Jugendszene schweigt: überfordert von immer neuer Gewalt  ■ Aus Magdeburg Annette Rogalla

Hier an der Endhaltestelle der Straßenbahnlinie 4 haben sie ihn ermordet. Siebenmal haben die Täter Frank Böttcher in den Rücken gestochen, auf seinen Kopf haben sie getreten, mit schweren Stiefeln. Ein Messerstich und ein Tritt seien tödlich gewesen, sagte der Polizeisprecher gestern. Frank lag im einer Blutlache links neben der Bank im Wartehäuschen. Er starb am Samstag morgen im Krankenhaus Olvenstedt gegenüber der Endhaltestelle.

„Frank – Tot“. Ein letztes Paßphoto, vergrößert und auf Pappe geklebt. Von der Holzbank blickt ein grobgekörntes schmales Jungengesicht mit Irokesenkamm auf brennende Friedhofsstumpen, gelbe Tulpen, Rosen und rosa Nelken. Seit Sonntag halten Franks Freunde an der Endhaltestelle von Olvenstedt eine Mahnwache. Jeden Nachmittag kommen sie her. Sitzen auf der Bank, nehmen Blumen in Empfang und warten, daß die Polizei kommt und sagt: Wir haben den Täter gefaßt.

Frank war einer von hier. Petra Altenhenne hat ihn gekannt. Als Schüler kam er nachmittags in ihren Hort. Ein stiller Junge soll er gewesen sein, einer, der sich duckte, der unsicher war. „Sein Vater hat die Kinder oft geprügelt, die Mutter geschlagen und saß deswegen häufiger im Knast.“ Nein, eine schöne Kindheit habe der 17jährige nicht gehabt. „Sein Leben war kurz und grauenhaft.“ Und weil Petra Altenhenne mit den Kindern im Hort heute über Gewalt geredet hat, sind sie hergekommen. Dreizehn Schulkinder stehen im Halbkreis und legen ein Sträußchen Anemonen zwischen die Kerzen. „Der liegt bald auf dem Friedhof, aber hier ist sein Grab“, murmelt Dennis.

Frank gehörte noch nicht lange zu den Punks. Vor vier Wochen sei er zum ersten Mal in der Innenstadt aufgetaucht, sagen seine trauernden Freunde. Anja hat ihn am Samstag mittag zum letzten Mal gesehen. Sie saßen bei Freunden in Stadtfeld, haben Quatsch gemacht und getrunken. „Einer der Kumpels hat ihm die Schuhe geklaut und gesagt: Die kriegste erst wieder, wenn du 'ne Flasche Schnaps klauen gehst.“ Frank ging, kam zurück, bekam die Schuhe wieder und verließ gegen 17:30 Uhr das Haus. Dann verliert sich für die Freundin seine Spur. Stunden später taucht Frank in dem Krankenhaus am Rand der Stadt auf und läßt die Wunde behandeln, die er vom Biß seiner Ratte hat. Anja erinnert sich, daß Frank bereits am Mittag gebissen worden war. „Warum ging er nicht in ein anderes Krankenhaus, warum kam er ausgerechnet hierher, in dieses Faschogebiet?“

Olvenstedt ist trostlos, verloren. Plattenbauten mit braunen Balkons, Plattenbauten mit blauen Klinkern, fast jeder neunte Magdeburger lebt hier. Die Olvenstedter haben ihren Stadtteil fast aufgegeben. „Hier wohnen nur noch Halbgewalkte.“ Der grauhaarige Ingenieur im Vorruhestand, der seinen Namen nicht nennen möchte, aber sagt, er sei Mitglied der Kommunistischen Plattform in der PDS, lebt seit 14 Jahren hier. „Als wir hierherzogen, war es eine komfortable Wohngegend.“ Aber seit die Altbauten in der Innenstadt saniert werden, ziehen all jene um, die es sich leisten können. „Zurück bleiben Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger und Frührentner.“ Und deren Kinder.

In den vergangenen sieben Jahren hat sich Olvenstedt zu einem Revier für junge Rechte entwickelt. „Sie haben einen Knüppel in der Hand, wenn sie mit ihren Hunden spazierengehen.“ Wenn die 14jährige Eileen einem „von denen“ begegnet, gibt sie Fersengeld. Es reicht, sagt sie, in der Bahn zu sitzen und statt der weißen Schnürsenkel, rote in den Stiefeln zu haben. Und schon werde gedroht: „Zeckensau, dich kriegen wir.“

Die Jugendclubs „Rampe“ und „Brunnenhof“ sind bekannt als Treffpunkte der rechten Szene. Seit dem Mord an Frank Böttcher herrscht eigentümliches Schweigen. Die „Rampe“ ist seit Montag dicht. „Winterfahrt bis 14. Februar“ steht an der Tür. Wer auf der Straße junge Glatzköpfe zum Mord befragen will, stößt auf Schweigen. Die im „Brunnenhof“ haben auch nichts zu sagen, außer „Presse unerwünscht“. Auch in ihrem Milieu wird jetzt ermittelt.

Bei der Polizei wurde am Wochenende eine Sonderkommission gebildet – 25 Beamte suchen seit vier Tagen den Mörder. „Wir ermitteln in alle Richtungen“, sagt Pressesprecher Lothar Schirmer. Schlägereien und heimtückische Überfälle kämen nicht nur von rechts, „auch die Punks hauen sich ständig auf die Gusche“. Standardsätze für einen Mord an einem 17jährigen.

Die keiner mehr hören kann bei der Mahnwache. Für Eileen und die anderen waren es „ganz klar die Faschos“. So wie 1992, als sie Thorsten Lamprecht auf einer Punkparty in den Elbterrassen erschlagen haben. Waren es nicht Nazi-Hooligans, die an Himmelfahrt Hatz auf Ausländer machten? Und jetzt Frank. Der zweite Tote. Die Gerüchte blühen. Haben Samstag nacht nicht an jeder Straßenbahnhaltestelle Glatzen gestanden? Kann es nicht Rache dafür gewesen sein, daß eine Glatze neulich von einem Punk in der Straßenbahn geschubst wurde? „Wut und Trauer“ haben die Punks auf die Wand der Haltestelle gesprüht und „Haß allein genügt nicht“. Parolen der Ratlosigkeit.

Im Jugendamt der Stadt ist viel von perspektivloser Jugend die Rede, von 25 Prozent Arbeitslosigkeit, vom Phlegma in den Familien und davon, daß die Stadt auch nach der Wende keinen Jugendclub geschlossen hat. Streetworker Jürgen Grenzmann weiß, daß „Erwachsene die Jugendlichen allein lassen“. Warum sind denn so wenige Erwachsene am Sonntag bei der Demo gewesen? fragt er. Zeichen würden erst gesetzt, wenn auch Eltern, Onkel, Tanten und Nachbarn gegen die grassierende Gewalt auf die Straße gingen. Jürgen Grenzmann ist so etwas wie ein Feuerwehrmann. Er flitzt zwischen den Treffpunkten der Jugendszenen hin und her und beschwichtigt: Geht euch aus dem Weg. Schlagt nicht aufeinander ein. Deeskalation heißt diese Strategie.

Im „Knast“, dem Treffpunkt der Punks, schottet Sozialarbeiterin Barbara Holtmann ihre Klientel barsch ab: „Keine Gespräche mit den Gästen, keine Interviews.“ Nur soviel: „Frank war kein Kunde von uns. Wir sind nicht so betroffen wie beim Tod von Thorsten Lamprecht.“ Der sei schließlich ein „Stammkunde“ des Hauses gewesen. Über weitere Demonstrationen zum Mord an Frank Böttcher will sie nicht nachdenken. „Das können nur Leute organisieren, die es betrifft.“ Eine unheimliche Ruhe liegt über Magdeburg. Nur wenige sind es, die abends im PDS-Büro beieinandersitzen und über eine große Demonstration nachdenken. Sie soll am übernächsten Samstag stattfinden.