Die Bibel des Boxens feiert Geburtstag

Das im Jahre 1922 vom legendären Nat Fleischer gegründete Magazin „The Ring“ wird heute 75, doch der trotz aller Millionenkämpfe lädierte Ruf des Boxsports schadet auch seinem Zentralorgan  ■ Von Bertram Job

In den interessanteren Schwarzweißstreifen legten sich Detektive und Gangster mit rahmengenähten Schuhen aufs Hotelbett, um für ein paar unbeobachtete Augenblicke seine illustrierten Kampfberichte zu studieren – im wirklichen Leben dagegen war die Lektüre des Boxmagazins The Ring für Profis, Profiteure und Millionen von Fans dagegen längst Pflicht. Beides zusammen schneidet dem Gratulanten nach über 900 Ausgaben und exakt 75 Jahren die Außenbahn ab, auf der er um den vielbemühten Begriff der „Institution“ herumkäme. So wie „Wrigleys“ einmal für Kaugummi stand und „Heinz“ für Ketchup, war The Ring für das kollektive Gedächtnis in Sachen Boxen ein Synonym. Kein Zweifel also: das älteste, kontinuierlich veröffentlichte Sportperiodikum der USA, das sich am ersten Wochenende im März gleich mit einer mehrtägigen Gala in Atlantic City feiert, hat sich seine Portion Narzißmus redlich verdient.

Dabei hatte Nathaniel S. Fleischer ursprünglich nur ein etwas umfangreicheres Mitteilungsblatt für die Boxfans in und um New York vorgeschwebt. Der faustkampfversessene Sportchef des New Yorker Telegramm sah sich darin von zwei aktuellen Ereignissen beflügelt. Einmal wurde 1920 das Verbot von Boxkämpfen im Staate New York aufgehoben, und zweitens zeigte der im Juli 1921 in Jersey City ausgetragene Mega- Fight zwischen Jack Dempsey und George Carpentier mit seiner Rekordeinnahme von knapp 1,8 Millionen Dollar, daß es genug Kaufkraft in diesem Sport gab.

Dempsey gewann, und bei dieser Gelegenheit stieß Fleischer auch auf den Mann, der ihm seine Idee finanzieren konnte – den gerade vermögend gewordenen Promoter des Abends, Tex Rickard. Mit Rickards Geld und dessen Pressemann Ike Dorgan zur Seite, veröffentlichte der damals 34jährige am 15. Februar 1922 die erste Ausgabe von The Ring. Fünf Jahre später erlaubte ihm eine rasch anwachsende Zahl von Lesern, seine Anstellung beim Telegramm aufzugeben und seine ganze Energie bis zum Tode 1972 dem Aufbau des kleinen Blättchens zur weltweit anerkannten „Bible of Boxing“ (so der heutige Untertitel) zu widmen.

Der unermüdliche Nat fungierte als Verleger, Herausgeber und Autor für sein Magazin, das er in der Manier eines humanen Alleinherrschers über 40 Jahre lang von ein paar Büroräumen am Komplex des alten Madison Square Garden aus lenkte. Edelfedern wie Damon Runyon, Budd Schulberg und Ed Sullivan sorgten bald für Renommee. Und die 1925 eingeführten monatlichen Ranglisten sowie der seit 1928 (an Gene Tunney) jährlich vergebene Gürtel für den besten Boxer aller Klassen, den „Fighter of the Year“, ließen das Fachblatt vor allem für Fans zur wahren, unabhängigen Instanz in einem allzeit zur Korruption neigenden Geschäft avancieren.

Fleischer setzte seine Ranglisten nicht nach Promoter- und Verbandsinteressen, sondern einzig nach ihrer sportlichen Qualifikation zusammen; selbst als die Weltverbände Muhammad Ali nach dessen Verurteilung wegen Kriegsdienstverweigerung 1967 den Titel aberkannten, führte er ihn unter seinem christlichen Namen Cassius Clay weiter als Schwergewichts-Champion. Nicht lange nach Fleischers Tod aber begann der Aufstieg des Profiboxens zum millionenschweren Vorvergnügen in den Casino-Hotels, und etwa im gleichen Maße sanken Einfluß und Auflage der Boxzeitschriften.

Zwei-, dreimal wanderte die am Markt schwächelnde Vorzeigegazette von einem Verleger zum nächsten und mit ihr eine einmalige Kollektion an internationalen Rekordbüchern, Box-Memorabilia und einem handschriftlich verfaßten Geständnis des ersten schwarzen Champions Jack Johnson, seinen legendären WM- Kampf gegen Jess Willard 1915 in Havanna absichtlich verloren zu haben. Die Unterstützung eines vom Boxpaten Don King für den Sender ABC initiierten und in seinem Sinne manipulierten Turniers mit nachrückenden Talenten tat 1976/77 ihr übriges zum nachlassenden Prestige des Magazins. 1989 wurde es endlich vom langjährigen Fleischer-Gefährten Stanley Weston für das London Publishing-Konsortium erworben, das es jetzt mit einer kleinen Redaktion in Ambler/Pennsylvania neben drei weitere Kampfgazetten (KO, World Boxing, Boxing 97) als nostalgiereiches Monatsblatt weiterführt. „Ich konnte die alte Dame nicht sterben lassen“, lautete Westons Begründung.

Die Allegorie paßt in jedem Sinne. Nur zu gerne geht heute der Blick in die alten Zeiten zurück, als es gerade mal acht Gewichtsklassen und in der Regel ebenso wenige Weltmeister im Boxen gab. Etwa jede vierte redaktionelle Seite wird inzwischen mit nachgedruckten Cover-Stories früherer Ausgaben, mit den „Time Capsules“ (Zeitkapseln) und der „Battle of the Legends“ gefüllt, wo Experten etwa darüber debattieren, ob der Schwergewichts-Weltmeister von 1949 bis 1951, Ezzard Charles, gegen den aktuellen Champion Evander Holyfield siegen oder verlieren würde. Es ist der Versuch einer Tugend aus der Not, denn auch das berühmteste Boxmagazin der Welt kann nicht erfinden, was es am nötigsten bräuchte – möglichst viele große Kämpfe zwischen großen Kämpfern.

Noch aber ist die alte Dame nicht so schwer angeschlagen, daß sie ins Taumeln geriete. Mehr als fünf Millionen Leser blättern nach Auskunft des Verlegers auf allen fünf Kontinenten in der Boxbibel – wenn auch die überwiegend schwarzweiß und nicht eben vornehm gedruckten 74 Seiten auf eine eher bescheidene Rendite schließen lassen. „Wir würden hier nicht mehr sitzen, wenn wir keine Gewinne machten“, weiß der langjährige Redakteur Nigel Collins – „aber wenn wir edleres Papier hätten, gäbe es möglicherweise keine Gewinne mehr.“