Viele Täter, wenig Anklagen

Hildegard Uertz-Retzloff ist die einzige deutsche Ermittlungsanwältin am UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. Ein Porträt  ■ von Sabine Adler

Die Adresse stimmt: Churchillplein 1, mitten in Den Haag. Wo ist das Un-Kriegsverbrechertribunal? Kein Schild, kein Wegweiser, nichts. Gegenüber vom Kongreßzentrum wickelt sich eine blaßblaue Fahne schlapp um den Masten, die Flagge der UNO. Dort, in dem Sandsteinbau aus den 50er Jahren, muß es sein. Der Architekt wollte dem Bau offenbar etwas Ehrwürdiges geben. Eigentümerin ist eine Versicherungsgesellschaft, sie hat dem UN-Gericht einen Teil des Gebäudes überlassen.

Hildegard Uertz-Retzloff kommt uns entgegen, offenes Gesicht, kräftige Gestalt. Führt uns in die Hallen, die Tristesse verbreiten und eine Zeugin wohl eher einschüchtern als stark machen für die Aussagen gegen die Mörder, Vergewaltiger, Folterer.

Die Ermittlungsanwältin hat keinen Blick mehr dafür. Seit zwei Jahren ist das Tribunal ihr Arbeitsplatz, zu oft hat sie die verqualmte Eingangshalle durchquert. Sie zeigt uns das Allerheiligste, den Verhandlungssaal, der vom Zuschauerraum mit einer dicken Panzerglaswand getrennt ist. Das Glas ist schuß- und schallsicher. Wenn die JournalistInnen und Gäste zuhören wollen, müssen sie Kopfhörer aufsetzen. Sie können wählen zwischen Englisch, Französisch und den drei Sprachen Exjugoslawiens, die sich kaum voneinander unterscheiden.

Hildegard Uertz-Retzloff erklärt noch eine Besonderheit: Wenn ZeugInnen es wünschen, bekommen sie die ZuschauerInnen nicht zu Gesicht. Eine Jalousie wird heruntergelassen, auf dem Monitor erscheint das Gesicht nur als dunkler Fleck.

UN-Anwältin bei einem Kriegsverbrechertribunal – das hat sich die 46jährige Mutter von zwei erwachsenen Söhnen noch vor drei Jahren nicht träumen lassen. Doch als sie die Ausschreibung für die Stelle als Ermittlungsanwältin auf den Tisch bekam, spielte sie alles für sich durch. War sie bereit, sich für mindestens ein Jahr ausschließlich mit den Verbrechen des Bosnienkrieges zu befassen? Würde sie es aushalten, wenn die Vergewaltigungsopfer bei der Zeugenanhörung noch einmal ihr Schicksal durchleiden? Könnte sie auch dann noch gezielte, sachliche Fragen stellen, die die gequälte Frau in diesem Moment möglicherweise als viel zu nüchtern, ja fast schon brutal empfinden könnte?

Sie wollte es versuchen. Damit die Verbrecher ihre Strafe bekommen, damit Vergewaltigungen, in diesem Krieg eindeutig als Waffe eingesetzt, geahndet werden als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wenn die Vergewaltigungen im Zweiten Weltkrieg schon im Nürnberger Kriegsverbrechertribunal keine Rolle gespielt haben, dann sollte es wenigstens nach diesem Krieg anders sein, damit sich das Bewußtsein weltweit schärft: Frauen dürfen nicht ungestraft sexuell mißbraucht werden, nicht im Krieg, nicht in Friedenszeiten.

Den Krieg auf dem Balkan hat sie sehr genau verfolgt, ihr Mann kommt aus Novi Sad, kein Serbe, er ist ungarischer Abstammung.

Daß ihre Bewerbung tatsächlich Erfolg hatte, begründet die Bochumer Staatsanwältin ganz nüchtern. Gebraucht werden in Den Haag AnwältInnen, die vor allem eines können müssen: komplizierte, lange und unüberschaubare Verfahren im Griff behalten. Dafür war sie die Richtige, denn am Bochumer Landgericht hatte sie zwar auch mit Vergewaltigungsopfern zu tun, hat sie vertreten beim Eildienst der Staatsanwaltschaft. Sie hat sich auch als Urlaubsvertretung im Sonderdezernat für Gewalt gegen Frauen einteilen lassen. Doch das, schätzt sie, gab nicht den Ausschlag. Für das Gericht ist sie wertvoll, weil sie in ihren 13 Berufsjahren als Staatsanwältin in Bochum eine Reihe von Prozessen gegen Wirtschaftskriminelle geführt hat, die sich teilweise über Jahre hinzogen. Weil sie Licht in das Dunkel von mafiaähnlichen Strukturen gebracht hat, weil sie sich auskennt mit organisierter Kriminalität. Und weil sie nie den Überblick und erst recht nicht die Geduld verlor, wenn sich die Verfahren allzu sehr verzweigten.

Der Alltag einer Ermittlungsanwältin am UN-Tribunal ist nicht viel anders als in Deutschland, sagte Hildegard Uertz-Retzloff. Beweise sammeln, Zeugen finden, Anklage erheben. Die Unterschiede zu den Wirtschaftsverbrechen, die ihr vertraut sind, spielt sie herunter. Selbstschutz?

Die ErmittlungsanwältInnen des Tribunals suchen ZeugInnen in ganz Europa. Sie gehen den Hinweisen von Hilfsorganisationen nach. Auch Presseveröffentlichungen werden genau durchgesehen, um eine Spur zu finden. Erst seit dem Daytoner Friedensabkommen reisen die neun Ermittlungsteams regelmäßig ins ehemalige Kriegsgebiet. Sie schauen sich die unzähligen Restaurants, Hotels, Schulen, Fabrikhallen und Polizeistationen an, die über Wochen und Monate Orte der Hölle waren. Prijedor zum Beispiel, wo aus der Textilfabrik ein Vergewaltigungslager wurde. Oder Foca, wo Mädchen in einer Schule monatelang Abend für Abend von Soldatenhorden mißbraucht wurden. Srebrenica, wo auf den Feldern vor der Stadt Großväter, Väter und Söhne reihenweise in Massengräber geschossen wurden.

Ein Schwerpunkt ihrer Ermittlungen sind Sexualstraftaten. Doch gerade sie sind mühsam nachzuweisen. Hauptbeweismittel sind die Zeugenaussagen, von ihnen hängt alles ab. Dazu muß die Anwältin aber erst einmal Frauen finden, die bereit sind, noch einmal die entwürdigenden Verbrechen zu erzählen, nicht nur ihr, sondern auch dem Internationalen Gericht. Die Zeuginnen müssen stark genug sein, auch den Angeklagten gegenüberzutreten. Und sie müssen sicher sein, daß sie nach einer solchen Offenbarung nicht von ihrer Familie verstoßen werden. Ein Problem vor allem für muslimische Frauen, denn für die Männer in ihren Familien gelten sie nach einer Vergewaltigung als unrein. Für strenggläubige Muslime kann dies ein Grund sein, sie zu töten.

Oberstes Gebot beim Umgang mit den Zeuginnen ist deshalb Diskretion. Wenn Hildehard Uertz- Retzloff sich mit den Frauen trifft, dann so, daß niemand etwas davon erfährt. Sie arrangiert Begegnungen in Hotels oder im Haus der Frau. Der für Dritte erkennbare Anlaß der Zeugenanhörung sind nie die Vergewaltigungen, sondern andere Verbrechen, die die Frau gesehen hat: Morde, Verschleppungen, Plünderungen. Daß es beim Gespräch auch um die Gewalttaten an der Frau selbst geht, erfährt nicht einmal der Ehemann. Das schützt die Frau vor ihrer eigenen Familie und der Nachbarschaft. Doch auch wenn Hildegard Uertz-Retzloff die richtige Zeugin gefunden hat, ist die Anwältin noch lange nicht am Ziel. Zuviel steht für eine solche Frau auf dem Spiel. Ihre psychische Stabilität, die sie gerade mühsam wiedererlangt hat, das Schicksal ihrer Familie, sogar ihr Leben. Hildehard Uertz-Retzloff weiß, daß sie bis zum Schluß zittern muß, ob ihre Zeugin tatsächlich bei der Verhandlung in Den Haag erscheint. Zwingen kann sie dazu niemand.

Aber soweit ist es noch nicht. Denn es gibt keine Täter, die man anklagen könnte. Obwohl das UN- Dokumentationszentrum bereits im März 1994 3.150 mutmaßliche Kriegsverbrecher in Listen erfaßt hat. Um überhaupt auf eine solche Liste zu kommen, mußte ein Kriegsverbrecher von mindestens fünf ZeugInnen genannt worden sein. Bei vielen der 3.150 Verbrecher konnten 100 ZeugInnen seinen Namen sagen.

74 Anklagen wurden bis jetzt von den ErmittlungsanwältInnen in Den Haag erhoben, darunter auch die gegen den Armeechef Mladić und den Serbenchef Karadžić. Das Gefängnis, das die Stadt Den Haag für die mutmaßlichen Kriegsverbrecher zur Verfügung gestellt hat, ist trotzdem fast leer, lediglich sieben Angeklagte warten dort auf ihren Prozeß.

Ein einziges Urteil hat das Gericht bislang ausgesprochen. Zehn Jahre Haft für den bosnischen Kroaten Drazen Erdemović. Er war beteiligt an den Massenerschießungen vor den Toren von Srebrenica. Ob dabei 1.000 oder 2.000 Menschen getötet wurden, vermochte er in der Verhandlung nicht zu sagen. Wie viele Männer allein durch seine Schüsse ermordet wurden, wollte er nicht wissen.

Die magere Erfolgsbilanz des Gerichts wird international kritisiert. Vergleiche mit dem Nürnberger Naziverbrechertribunal werden angestellt. Doch damals befaßten sich 2.000 Juristen mit den Verbrechen im Dritten Reich, in Den Haag arbeiten 300. Dazu kommt die chronische Finanznot der Vereinten Nationen. Doch all das sind nicht die wahren Gründe für die Erfolglosigkeit des Bosnien-Tribunals. Was fehlt, sind die Festnahmen. Zwar werden die Nachfolgestaaten Exjugoslawiens regelmäßig aufgefordert, die mutmaßlichen Kriegsverbrecher auszuliefern, doch weder Sarajevo, noch Zagreb, noch Belgrad reagiert. Auf der Dezembertagung der Bosnien-Konferenz in London kam der Vorschlag, eine internationale Polizeisondertruppe mit Vollmachten für Festnahmen auszustatten – es blieb bei der Idee.

Hildegard Uertz-Retzloff bewahrt die Geduld. „Die Naziverbrechen sind auch nicht in wenigen Monaten aufgearbeitet worden, das hat Jahrzehnte gedauert.“ Von der Nützlichkeit des Tribunals ist sie überzeugt. Auch wenn es den Opfern schwerfällt auszusagen, so appelliert sie doch immer wieder an die Frauen, nach Den Haag zu kommen. Eine Anklage, betont sie immer wieder, sei ohne die Opfer, ohne die Zeugen nicht möglich. Dabei weiß sie, daß sie viel verlangt von den Frauen. Aber sie ist überzeugt davon, daß es auch den Frauen guttut, wenn sie der Gerechtigkeit auf den Weg helfen. Eine Hilfe zur eigenen Wiedergesundung. „Schweigen, alles verschweigen und verdrängen, nützt den Opfern auf die Dauer auch nicht. Die vergewaltigten Frauen aus dem Zweiten Weltkrieg, die haben es ja schlichtweg verdrängt und verschwiegen.“ Ihre Begegnung mit einer Frau, die kurz vor Kriegsende vergewaltigt wurde, bestätigte ihre Auffassung. „Diese Frau ist heute, 50 Jahre später, damit noch nicht fertig.“

Spannend ist die Arbeit am Tribunal für die Anwältin noch immer. Jeden Tag lernt sie etwas Neues, was vor allem am Austausch mit den ausländischen Kollegen liegt. Sie erfährt viel über die Rechtssysteme anderer Länder, denn die Juristen streiten hartnäckig, welche Regeln in Den Haag gelten sollen. Die Regel 96 hält sie für geradezu revolutionär. Die legt nämlich fest, wie die Zeuginnen während des Prozesses geschützt werden. Sie verbietet Fragen nach der sexuellen Vergangenheit der Frau. Sie erlaubt der Verteidigung auch nicht das Argument, daß eine Frau „freiwillig mitgemacht hat“. Wenn sie in einem Lager festgehalten wurde oder anderweitig unter Druck stand, gilt dieses Argument nicht. Fragen des Verteidigers, die in diese Richtung zielen, muß der Richter unterbinden. Verglichen mit den Vergewaltigungsprozessen in Deutschland hält sie diese Schutzmaßnahmen für ungewöhnlich fortschrittlich.

Auch wenn eine Zeugin anonym bleiben möchte, gibt es dafür Möglichkeiten. Manchmal genügt es, daß die Presse den Namen nicht erfährt und auch nicht bekannt wird, wie die Frau aussieht. Mitunter wollen Frauen aber auch ganz inkognito bleiben. Dann muß das Gericht abwägen zwischen den Interessen der Zeugin und des Angeklagten. Die hundertprozentige Anonymität ist zwar grundsätzlich möglich, soll aber die absolute Ausnahme bleiben.

Hildegard Uertz-Retzloff bemüht sich um Sachlichkeit, zwingt sich, auch bei den allerschlimmsten Erzählungen einen „berufsmäßigen Blick“ zu bewahren. Sachlichkeit ist für sie Professionalität, ihr Mechanismus, die Schreckensdarstellungen nicht zu dicht an sich heranzulassen. Vor allem darf sie sich die Schilderungen der Frauen nicht bildlich vorstellen. „Dann ist es vorbei, dann kann man das nicht mehr aushalten.“