„Einer von drei Fahrern erkennt mich“

London liebt ihn (fast) wie Berlin Harald Juhnke: Ian Dury – genau, der von „Sex & Drugs & Rock'n'Roll“ – ist immer noch alive und sogar kicking. Demnächst erscheint eine Platte mit neuem Stoff von ihm und den Blockheads  ■ Von Hanspeter Kuenzler

Der Mann, der Ian Dury ist, hat zwei Ghettoblaster auf dem Tisch. Er wirft Kassetten ein – eine in den Ghettoblaster links, eine zweite in den Ghettoblaster rechts. Schon verändert sich das Ambiente in seiner Arbeitsklause vollkommen: Der winzige Raum, der höher ist als breit, erdröhnt von links mit King Tubby – Reggae der schrägen, klassischen Dub-Art – und von rechts mit dem Lärm eines Froschteichs an einem besonders emsigen Tag.

Es ist dies Ians praxisbezogene Reaktion auf die Frage: Was hört er sich denn heutzutage so für Musik an?“ – „Der Froschteich ist zufällig“, lacht der im Mai seinen 55. Geburtstag feiernde Exkunstmaler und Sänger: „Manchmal ist es auch Walfischgesang oder Farmgeräusche...“

Unter dem Haufen herumliegender Kassetten ist auch eine kleine Überraschung. Es sind – surprise, surprise! – seine eigenen neuen Lieder. Das könnte peinlich werden! Einem Künstler in die Augen zu schauen, während er voller Hoffnung von einer hoffnungslosen kreativen Neugeburt schwärmt, ist nicht leicht. Ganz anders bei Dury. Die neuen Songs hauen in die gleiche Kerbe wie die alten: „Sex & Drugs & Rock'n'Roll“, „Hit Me With Your Rhythm Stick“, „Wake Up And Make Love With Me“ – clevere kurze Lehrgeschichten und amüsante Vignetten aus dem Alltag in einem mit Jazz und Reggae aufgelockerten Pub- Rock-Groove. Das dürfen sie auch, denn das hat heute nicht weniger Charme und Druck als vor zwanzig Jahren, als Dury mit seiner Band The Blockheads den ersten großen Wurf landete – das Album „New Boots And Panties!“

Eigenartig, daß Ian Dury im ganzen Rummel um „Brit-Pop“ und die Pioniere des „archetypisch englischen Popsongs“ bis jetzt nicht wiederentdeckt wurde. Schon seine erste Band, Kilburn & The High Road, ist in London eine kleine Legende geblieben. Zu einer Zeit, wo das Musikgeschehen von gigantomanischen Pompshows, Pop minderer Güte und phlegmatischen Plattenmultis dominiert wurde, gehörten sie mit Ducks Deluxe, Dr. Feelgood, Chili Willi & The Red Hot Peppers und einer Handvoll anderen zum Kern einer Rebellion, von der auch die Punks erheblich profitierten. Diese „Pub-Rock“-Bands (der Ausdruck war damals ein Lob ganz ohne den despektierlichen Unterton von heute) kümmerten sich wenig ums commercial potential. Sie besannen sich zurück auf knorrige, solide Wurzelmusik von Rhythm & Blues bis Texas Swing, von Country bis keltischer Folklore – und das war in den mittleren siebziger Jahren ein flotter Schritt nach vorn.

Ian Dury, der die Kilburns gründete, als er noch am Kunstcollege von Canterbury lehrte, fand denn auch unter den Punks sein erstes größeres Publikum. „Sex & Drugs & Rock'n'Roll“, im August 1977 vom supercoolen Stiff-Label veröffentlicht, schlug den Ton an. Hier brachte es einer fertig, sich über die Exzesse im Mythos des „Rockstars“ lustig zu machen, ohne darüber unlustig zu werden. Daß die Band Swing, ja Funk hatte, war ein Bonus – am wichtigsten war jedoch Durys Stimme: Er sang nicht „schön“, war über weite Strecken „Sprechsänger“, aber er sang auf englisch. Während rundum die ganze Popwelt den Akzent von Los Angeles als Norm akzeptierte, setzte Ian Dury auf den Osten – aber den Osten Londons.

Dadurch bekam ein Song wie „Sex & Drugs & Rock'n'Roll“ erst die rechte Süffisanz. Ostlondon mit den Marktschreiern von Petticoat Lane, den mit allen Wassern gewaschenen Wirten von Bethnal Green, den Arbeitern der Ford- Werke in Dagenham und den Fans der FCs West Ham und Leyton Orient hatte bisher als schäbig und Inbegriff des Anti-Rock'n'Roll gegolten. Dury machte es und seinen Sprachgebrauch, genannt „Cockney-Englisch“, salonfähig.

„Es war keineswegs ein mutiger Schritt“, spielt Dury das Ganze heute herunter. „Ich hatte ja nichts zu verlieren, denn ich hegte keinerlei Träume, es in den USA oder irgendwo sonst zu etwas zu bringen. Der Einfall, es so zu machen, kam eher zufällig. Wir hatten eine Demo-Aufnahme von ,Wake Up And Make Love With Me‘ gemacht, Chaz Jankel und ich, und wir spielten sie dem Manager Charlie Gillett vor. Dieser stöhnte und sagte: ,Was soll denn dieses Barry-White-Getue? Barry-White-Imitationen sind keine gute Sache!‘ Ich war entsetzt und beleidigt, aber nach einer Weile sah ich ein, daß er recht hatte. Von da an sang ich auf englisch.“ Und: Dury spannte den Bogen zurück zur englischen „Music Hall“-Tradition (die auch Ray Davies und Blur gern zitieren).

Ian Durys erste LP verkaufte sich allein im deutschsprachigen Raum 100.000mal (die Gold-LP schenkte Ian der Mama). Lieder wie „Wake Up And Make Love With Me“, „Clevor Trever“ und „Billericay Dickie“ waren in aller Partymunde, und bald entstiegen Dury und die Blockheads dem Kultklosett und mauserten sich mit Hits wie „What A Waste“, „Reasons To Be Cheerful Pt. 3“ und „Hit Me With Your Rhythm Stick“ zu regelrechten Popstars.

Außerordentlich war daran neben Durys Sprache und seinem fortgeschrittenen Alter auch die Tatsache, daß er mit sieben Jahren an Kinderlähmung erkrankt war – und sich bis heute nur mit Krücken vorwärtsbewegen kann. Auch hier half der „Cockney Rhyming Slang“, der gern ein konventionelles Alltagswort durch einen bizarren, wie in diesem Fall dann oft auch noch weggelassenen Reim ersetzt: „Raspberry Ripple“ ist eine Eiskremsorte (Vanille mit Himbeerschlenker), „Ripple“ reimt sich auf „Cripple“ (Krüppel) – und so beschrieb sich Ian als „Raspberry“. Etwas später, 1981, hatte er dann auch noch den Mut, das in einem Lied zu thematisieren. Aber ironischereise spielte keine Radiostation die Single „Spasticus Autisticus“.

Dury ist trotzdem zu einem kleineren Volkshelden geworden. „Wenn ich die Straße hintergehe, werde ich von Liebe nur so erdrückt“, klagt er augenzwinkernd. „Ich habe mir nie die geringsten Sorgen um meine Karriere gemacht. Wenn ich wissen will, wie's damit steht, gehe ich spazieren oder fahre Taxi. Einer von drei Fahrern erkennt mich und fängt an, ein Lied von mir zu singen. Das tut gut. Daran sehe ich, daß ich es zu etwas gebracht habe. Seit ,New Boots...‘ habe ich mir keine finanziellen Sorgen mehr machen müssen. So habe ich seither immer das gleiche gemacht, das, was ich wollte. Manchmal lief das zusammen mit einer Resonanz in der Öffentlichkeit, manchmal nicht. Das ist mir gerade recht.“

Derzeit lebt der Lebenskünstler in einer verwirrend verworrenen Steinvilla am Rande des gehobenen Künstlerviertels Hampstead. Vor zwei Jahren zog er in die jetzige Wohnung seiner Mutter, die im Sterben lag – um ihr nahe zu sein. Fünf Tage nach ihrem Tod wurde Söhnchen Ben geboren („Eine schöne Kontinuität. Das Baby kam aus dem Blauen – hat alles auf den Kopf gestellt. Und jetzt ist noch eins unterwegs!“). Nun lebt er mit Freundin Sophie und Ben noch immer in Mutterns Wohnung, umgeben von einem Chaos von Spielzeugen, mütterlichem Schnickschnack, Gemälden von älteren Söhnen und urtümlichen Möbelstücken. Der Korridor, der zum Arbeitszimmer führt, ist so eng, daß Ian mit der Krücke immer wieder anschlägt. Es ist doch noch genug Platz da für Koautor Mick Gallagher, wie alle anderen Ur- Blockheads außer dem verstorbenen Charlie Charles weiterhin bei der Sache.

„Daß wir gerade jetzt eine neue LP machen, hängt nur damit zusammen, daß ich jetzt erst wieder das Gefühl habe, genug starke Songs zusammengestellt zu haben. Meine Art von Texten braucht Zeit – jedes Lied braucht einen neuen Hauptcharakter, einen neuen Erzähler. Solche Einfälle kommen nicht alle Tage.“ Nicht daß sich Dury wegen der langen Plattenpause den Kopf zerbrochen hätte! Erstens schafft er sich durch gelegentliche Filmrollen und Theaterarbeiten Abwechslung (unter anderem Roman Polanskis „Pirates“, „Hearts of Fire“); zweitens leiht er seine Stimme bei Gelegenheit der Fernsehwerbung; drittens wirft er eh sofort alles hin, wenn Ben ins Zimmer krabbelt; und viertens: „Ich kenne keinerlei schlechtes Gewissen, wenn ich nicht arbeite! Nie gehabt. Das Liebste ist mir ein sonniger Tag in meiner anderen Wohnung über der Themse in Hammersmith. Da sitze ich den ganzen Tag auf dem Balkon, eine Flasche billigen bulgarischen Roten dazu – reinste Wonne!“

Einige Tage nach dem Interview bitten die Blockheads im mit fast zweitausend Zuschauern ausverkauften „Forum“ zum Konzert. Diesmal handelt es sich nicht nur um das unterdessen traditionelle jährliche Weihnachtskonzert: Die Band probiert die neuen Songs aus, will wissen, ob eine Tournee im Frühjahr sinnvoll wäre. Und rundum heulen gestandene Männer ins Bier. Nein, das ist nicht Nostalgie. Allenfalls noch „lebendige Geschichte“. Aber vor allem sind es Lieder, die zehn, zwanzig Jahre nach ihrer Kreation noch immer etwas sagen können, ja müssen. Die neuen Lieder auch.