20 Jahre und ein Stück Autobahn

Das Hüttendorf gegen die A 33 bei Osnabrück wird geräumt. Die Leute in Dissen kriegen ihre Autobahn. Wilhelm Meyer zu Erpen bleibt auf seinem Hof. Die Demonstranten werden weiterziehen  ■ Von Bettina Markmeyer

Bis Montag früh haben sie Zeit. Dann soll geräumt werden. Für Tina wäre es die vierte Räumung. Sie ist 22 und lebt seit drei Jahren in Hüttendörfern auf der Trasse der künftigen A 33, südlich von Osnabrück. Mit den anderen, mehr Männer als Frauen, die meisten Anfang 20, sitzt sie in der Gemeinschaftshütte und diskutiert. Zwischendurch schmeißt sie Holz in den Ofen. Der war mal eine Tonne. Das Ofenrohr besteht aus ineinandergesteckten Dosen. Kurz unter der Decke ist ein Stück Maschendrahtzaun gespannt. Darin liegen Bretter zum Trocknen. „Wenn man das Holz feucht verbaut, gibt's Risse“, erklärt Tina.

„Laß uns schnell noch eine Riesenhütte hochziehen“, schlägt Gregor vor. „Am besten gleich auf der Baustelle da drüben“, meint ein anderer. „Vor allem müssen wir Leute mobilisieren“, sagt Tina. „Die Woche wird anstrengend“, seufzt Thomas. Alles wird besprochen, die Räumung, die Zeit danach. Nur eines wird schnell verworfen: einfach zu gehen, wenn die Polizei anrückt. Die paar wetterfest verpackten Leute auf den Sperrmüllsofas, denen die Kälte die Beine hochkriecht, haben eine Protestform zu verteidigen.

Gut ein Jahr stehen ihre zusammengezimmerten Häuschen jetzt auf einem Acker westlich der niedersächsischen Kleinstadt Dissen. Hier, zwischen Teutoburger Wald und Bad Rothenfelde, wo Herz- und Bronchienkranke kuren, in der Nähe eines kleinen Wasserschlosses, haben sie sich eingerichtet. Ihr aus Ästen zusammengenagelter Turm ist weithin zu sehen, obendrauf flattert die schwarze Fahne.

Im Februar letzten Jahres sind die Hüttendörfler hier schon einmal geräumt worden, ein anderes Mal ein paar hundert Meter weiter südlich, jedesmal mit großem Polizeiaufgebot. Und jedesmal haben sie am nächsten Tag mit dem Bau eines neuen Dorfes begonnen. Jetzt steht es direkt vor dem Stummel, in dem die halb gebaute Autobahn 33 von Osnabrück nach Bielefeld derzeit endet: die beiden großen Bretterhütten samt Turm und Fahne, Bauwagen und ein Klo, durch das der Wind pfeift. Hinter der Gemeinschaftshütte, wo auch gekocht wird, legen sich die Lkws in die Kurve. Da geht die A 33 in die Bundesstraße 68 über. Später soll sie geradeaus weiterführen, genau da, wo die Hütten stehen. Ab und zu hupt ein Fahrer. „Das gilt uns“, sagt Tina: „Wenn es wärmer wird, drehen sie die Scheiben runter und brüllen ihre Sprüche.“ Lkw-Fahrer haben eine Wut auf die Hüttendörfler.

Thomas, der aus dem Nachbarort stammt, ist seit drei Jahren begeisterter Protestler: „Das war geil, als hier die Autobahn weitergebaut wurde, und wir bauten gleichzeitig unser Hüttendorf.“ Sie alle hier seien nicht nur gegen neue Autobahnen, sondern gegen „den Fetisch Auto überhaupt“, erzählt der Student, während er dem Hund Jimmy die Ohren knetet. Es gehe ihnen darum, anders zu leben und mit ihren Hütten „ein Symbol zu schaffen, um den Konflikt zu forcieren“.

Das ist gelungen. Ganz Dissen ist für die Autobahn. Weil die B 68 mitten durch den Ort führt. Weil die Bundesstraße hier eng wird, die Bürgersteige schmal sind, weil die Scheiben klirren, wenn sich hier Tag und Nacht der Schwerlastverkehr zwischen Niedersachsen und NRW vorbeiwälzt.

Klaus Röttger ist einer der Sprecher der Pro-A-33-Aktionsgemeinschaft. Der CDU-Mann hat sein Versicherungsbüro direkt an der B 68 in Dissen, vor dem Fenster eine Ampel, an der die Laster halten, anfahren, sich weiterschieben. Wenn er mit seinem Wagen das Grundstück verlassen will, muß er minutenlang warten. Röttger will erlöst werden vom Lärm, von den Abgasen, vom Dauerstau. Seit Jahren wartet er darauf, daß die A 33 Dissen von der Blechlawine befreit. Und daß die Hüttendörfler verschwinden. „Aber die gehen nicht weg, das regt uns fürchterlich auf! Jeder Tag verzögert das Ganze.“

Alle „ersehnen“ die Autobahn, sagt auch Stadtdirektor Johann Hinderks. Sauer ist die Rentnerin mit der Einkaufstasche, die „hier keinen Schaufensterbummel mehr“ machen will, das alte Ehepaar, das „nicht über die Straße“ kommt, die Bäckersfrau, die „immerzu nachfragen muß, wenn Kunden leise reden“. Und die Drogistin Andrea Reinking, die sich für ihre Parfümerie wieder ein angemessenes Umfeld wünscht.

Privatläden haben aufgegeben, haben „Schlecker“, „Woolworth“ und der „Erwachsenenvideothek“ Platz gemacht. Die 39jährige und ihre Kinder schlafen hinter dreifach verglasten Fenstern und brauchen nach dem Skiurlaub Tage, um sich wieder daran zu gewöhnen, daß „das Haus ständig zittert“. Wer schuld ist an dem Dilemma, weiß Autobahnfreund Klaus Röttger: „Meyer zu Erpen, der tyrannisiert die Leute in Dissen.“

Der „Tyrann“, Wilhelm Meyer zu Erpen, ist Landwirt, Vater von sieben Kindern, Ratsherr für die Grünen, Handballer, Schützenbruder. Teile seiner Flächen liegen auf der Autobahntrasse. Sein Vater, der auch gegen die A 33 war, hatte ihm einmal geraten, Tankstellenpächter zu werden. Wilhelm blieb Bauer. Er unterstützt die Hüttendörfler, weil er Respekt vor ihrem Einsatz hat – „drei Winter, das zehrt“ – und vermutet, daß sie ohne seinen Hof nicht so lange durchgehalten hätten. In dem 175 Jahre alten Fachwerkhaus holen die Anti-A 33-Aktivisten Wasser und Werkzeug, leihen das Fahrrad und laden die Autobatterien, mit denen sie ihren einzigen Stromverbraucher betreiben: die Glühbirne in der Gemeinschaftshütte.

Bei der letzten Räumung wurde Meyer zu Erpen „in Handschellen von meinem eigenen Acker geführt“. Wenig später bestätigte ihm das Verwaltungsgericht Osnabrück, daß Verhaftung und Räumung rechtlich nicht gedeckt, unverhältnismäßig und zu früh erfolgt waren. Die Dissener ärgerten sich über die Stümperei, die Autobahnbauer fühlten sich vorgeführt. Tina und die anderen bauten neue Hütten.

„Tolle Szenen“ nennt Meyer zu Erpen diese kleinen Siege. Weit häufiger hatte es der heute 40jährige in 20 Jahren Widerstand mit Situationen zu tun, in denen es nichts zu siegen gab, die schlicht zu bestehen waren. Etwa als in Dissen 3.000 Leute für die Autobahn demonstrierten. Und er mit nur 20 anderen am Ende des Zugs ging und tapfer Transparente gegen die A 33 hochhielt. Meyer zu Erpen hat gegen alle drei Autobahnstücke rund um Dissen geklagt, alle Klagen schließlich verloren. Planungsalternativen, vor allem der lange Zeit auch von den niedersächsischen Grünen geforderte Bau einer Umgehungsstraße, verschwanden in den Behördenschubladen. Fünf Jahre, meint Meyer zu Erpen – „fünf unnötige Jahre“ schimpfen die A-33-Befürworter – hat er den Autobahnbau verzögert.

„Den anderen Klägern ging es um den Wert ihrer Flächen, mir ging es um die Autobahn selbst: Diese Verkehrspolitik hat keine Zukunft.“ Er lächelt freundlich, als er mit seiner jungenhaften Stimme hinzufügt, er werde sich von seinen Kindern nicht fragen lassen müssen, warum er nichts getan habe gegen die Zerstörung. Jetzt verliert er ein Viertel seiner Äcker, 150 Meter vor der Haustür werden die Autos vorbeirauschen.

Ein paar hundert Meter südlich von Hof und Hüttendorf wühlen sich Bagger und Raupen schon durch die triefnasse Erde. Bauarbeiter bereiten die Betonierung eines acht Meter tiefen „Lärmschutztrogs“ vor, in dem die Betonpiste versenkt werden soll. Allein diese 700 Meter sind mit 55 Millionen Mark kalkuliert. Die Hüttendörfler erscheinen jeden Tag zu Baustellenblockaden. Die Polizei erscheint auch, man kennt sich. Und macht sich jeden Tag das Leben ein bißchen schwerer.

Anstrengend ist für die Hüttenbewohner nicht, daß sie bei Kälte und Regen auf dem Acker leben. Auch nicht, daß sie ihre Lebensmittel per Fahrrad aus den Abfallcontainern der Supermärkte holen. Anstrengend finden sie die rot-grüne Landesregierung von NRW, die nun die A 33 weiterbaut. Anstrengend ist, „daß die Polizei jetzt verstärkt kontrolliert“, daß ihnen 20.000 Mark Strafe angedroht werden, daß sie noch für die Demo am Sonntagnachmittag mobilisieren müssen. Und anstrengend ist manchmal wohl auch, „daß wir für die meisten Leute hier der letzte Dreck sind“.

Aber sie haben sich entschieden: „Wenn du Sicherheit willst“, sagt Tina und blinzelt durch ihre Rastalocken, „dann mußt du dich an die Spielregeln halten, mußt Miete zahlen, ins Büro gehen und Auto fahren.“ Sie hat ihren festen Wohnsitz im Hüttendorf angemeldet. In die Container, die der Dissener Stadtdirektor ihnen nach der Räumung zur Verfügung stellen wird, „kriegt mich niemand rein“. Sie lacht. In Ostbarthausen, wenige Kilometer weiter, steht das nächste Anti-A-33-Hüttendorf.

Wilhelm Meyer zu Erpen sitzt im Wohnzimmer seines Hauses, wo es warm ist und ruhig, legt die Hände auf den Tisch und sagt: „Als Verlierer fühlen wir uns überhaupt nicht.“ Er wird weiter Handball spielen in Dissen und im Sommer zum Schützenfest gehen: „Wir kennen uns doch alle. Mit mir müssen sie sich streiten.“

Zwar werden die Laster ab 1999 auf der A 33 westlich und südlich um Dissen herumfahren können. Aber die Pkw-Staus vor den Ampeln – das weiß auch Stadtdirektor Hinderks, der einen neuen Innenstadtring plant – werden bleiben. Weil die Autos, die da fahren, den Dissenern selbst gehören.