Höllisches Paradies

Reiseberichte über Island zeichnen ein vielschichtiges Bild von der Insel. Schon im 6. Jahrhundert erkundeten Reisende die faszinierende Landschaft.  ■ Von Wolfgang Müller

Garstige Teufel schürten auf dem düsteren Eiland gewaltige Schmiedefeuer. Die Luft sei erfüllt von gewaltigem Donner und feurigen Wurfgeschossen. So schrieb der irische Abt Brendan in der „Navigatio sancti Brendani“, dem ersten Reisebericht über das noch unbesiedelte Island aus der Mitte des 6. Jahrhunderts.

Bis ins 17. Jahrhundert wurde auf Island der Eingang zur Hölle vermutet. Als Pforte galt der Vulkan Hekla, dessen Ausbrüche selbst auf dem europäischen Festland zu bemerken waren. An ihren schneebedeckten Hängen klettern in Diethmar Bleffkens Reisebuch von 1607 Geister, Gespenster, weiße Raben und Bären herum.

„Die Bewohner der Insel halten sich in Höhlen auf, trinken viel Wein aus Spanien und stapeln Trockenfisch meterhoch.“ Die Höhlen, von denen Sebastian Münster in seiner 1628 in Basel erschienenen „Cosmographia“ spricht, sind die engen, in die Erde eingegrabenen, mit Torf und Grassoden abgedichteten Häuser, die heute als rekonstruierte Museumsbauten das romantische Bild von Island und seiner naturverbundenen Bevölkerung prägen. Tatsächlich waren sie Folge fehlenden Bau- und Heizmaterials. Die Lebenserwartung der Menschen in den ärmlichen Behausungen war eine der geringsten in Europa.

In den Reiseberichten dieser Zeit werden die IsländerInnen meist als schlimmste Wilde beschrieben, die ohne jegliches kulturelles Leben in ihren Höhlen dahinvegetieren. Und statt Elfen bevölkern Zombies das unbewohnte Innenland: Am Fuße des Vulkans Hekla, so Münster, seien Menschen zu sehen, die erst kürzlich ertrunken waren und von ihren Freunden gebeten würden, nach Hause zu kommen.

Im 18. Jahrhundert erscheinen die ersten Forscher, um geologische und vulkanische Phänomene zu untersuchen. Naturforscher folgen und beschreiben die reiche Vogelwelt. Leider findet sich – im Gegensatz zu anderen unerforschten Regionen der Welt – kein neu zu entdeckendes Tier.

Jules Vernes, der seinen Abenteuerroman „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ nach Island verlegt – der erloschene Vulkan Snaefellsjoküll ist Eingang ins Erdinnere –, hat selber nie einen Fuß auf isländisches Territorium gesetzt. Er war auf entsprechende Reisebeschreibungen seiner Zeitgenossen angewiesen. Die Bewohner des Landes schildert er als kräftige, blonde Menschen, deren Augen „gedankenvoll verschwimmen“. Während Geologen und Ornithologen das unbekannte Land durchforschen, gilt Island bis Mitte des 17. Jahrhunderts in den Reisebüchern ansonsten als kalte, öde und uninteressante Insel am Rande des Polarmeeres. „Daß das Land selbst oder irgend etwas in ihm zu Findendes eine Reise werth sei oder daß die Geschichten und Sitten der Bewohner irgendeinen Grad von Interesse besäßen, ist wohl kaum tausend Menschen in den Sinn gekommen“, meint der amerikanische Journalist Pliny Miles in „Streifzüge in Island“, 1855 als deutsche Übersetzung in Leipzig erschienen. Pliny Miles schildert die Bewohner der Insel als sehr arm, äußerst gastfreundlich und sehr gebildet – fast alle Frauen und Männer konnten schreiben und lesen: „Ich habe häufig Kinder armer Familien aufgefordert, mir etwas Isländisches vorzulesen und nie ein über neun Jahre altes getroffen, welches nicht hätte gut lesen können.“ In allen politischen und literarischen isländischen Schriften fände sich überdies „eine feurige Liebe zur politischen Freiheit“. Die Bewohner hätten ein „blühendes, hübsches Gesicht und sind schöne, häufig hochgewachsene Gestalten.“

Tief enttäuscht dagegen ist Ida Pfeiffer, die 1845 als erste Österreicherin auf der Suche nach einer alten Kulturnation die Polarinsel bereist. Dieses Volk hätte überhaupt kein „Schicklichkeitsgefühl“. Häßlich seien die Gesichter der Menschen, und überhaupt sei Reinlichkeit bei den Isländern nicht zu finden, „alle sind in höchstem Grade ekelhaft“. Dazu paßt es, daß die Häuser der Bauern keine Öfen haben, wozu auch, so Ida Pfeiffer, „sie wärmen sich an ihren eigenen Ausdünstungen“. Obwohl sich Pfeiffer in der österreichischen Gesellschaft ständig für ihre Unternehmungen rechtfertigen muß, bleibt sie doch andererseits streng verhaftet mit den Moralvorstellungen des bürgerlichen Frauenideals. „Merkwürdig kam es mir vor, daß die meisten dieser Leute bei mir eine Menge Kenntnisse voraussetzten, die sonst nur den Männern eigen sind.“

Angeln, ornithologische und geologische Interessen und die alte Literatur locken die ersten Sommerurlauber – vorwiegend Engländer, Dänen und Deutsche – gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf die Insel. Im Vorwort seiner Sammlung „Isländische Märchen“ (Wien 1884), stellt der Österreicher J.C. Poestion fest, „daß die Berichte über Island und seine Bewohner an großer Unzuverlässigkeit leiden, so daß die wahren Verhältnisse des Landes unbekannt bleiben“. Auffällig erscheint ihm, daß ein Fünftel aller isländischen Kinder unehelich geboren wird. Heute sind es über 32 Prozent. Besonders schlimm fanden das die IsländerInnen allerdings schon damals nicht.

Um die Jahrhundertwende steigt die Zahl der veröffentlichten Reisebeschreibungen. Im Berliner „Vorwärts“-Verlag erscheint 1909 „Eine Reise nach Island“ von E. Sonnemann alias Jürgen Brand: „Eine Scheidung in Vornehm und Gering gibt es hier nicht; die Kinder des Ministers sitzen in der Schule neben den Kindern der ,gewöhnlichen‘ Leute, und ich habe nicht gehört, daß es jenen geschadet hätte.“ Wein und Bier, überhaupt alkoholische Getränke gebe es aufgrund der Prohibition nicht mehr: „Die Enthaltsamkeitsbewegung hat in Island gute Fortschritte gemacht“, glaubt der Sozialdemokrat, dem die allenthalben gepflegte Schwarzbrennerei entgangen sein muß. Am Geysir erblickt er zufällig ein Mitglied des Deutschen Reichstags, Dr. Ablaß aus Berlin, „damit beschäftigt, im Schweiße seines Angesichts Rasenstücke und Steine herbeizuschleppen, um sie in den kochenden Schlund zu werfen“. Mit einer von Voigtländer & Sohn gesponserten Kamera nimmt Jürgen Brand auch eine „Proletarierbildnisgruppe von Einar Jonsson“, dem isländischen Bildhauer, auf und porträtiert sich selbst mit seiner Jagdbeute, jungen Eissturmvögeln. Im gleichen Jahr, 1909, erscheint auch das melancholisch- poetische Reisetagebuch von Ina von Grumbkow, „Isafold – Reisebilder aus Island“. Ihr Verlobter, der Berliner Geologe Walther von Knebel, war zwei Jahre zuvor unter ungeklärten Umständen bei einer Expedition im Kratersee des Vulkans Asja in Zentralisland zusammen mit dem Maler Max Rudloff ums Leben gekommen.

Der Berliner Autor Frank Schroeder greift 1994 die längst vergessene Tragödie auf, begibt sich auf Spurensuche, recherchiert in Archiven und verknüpft Ina von Grumbkows Reisebuchtexte mit eigenem Material, formt daraus einen Abenteuerroman mit zivilisationskritischen Einsprengseln, der sich um die Gedanken- und Gefühlswelt der Verlobten rankt. „Die Eisumschlungene – Spurensuche in Island“ gerät dabei mitunter etwas altertümelnd gespreizt. So werden aus den Reiseabsichten der Ina von Grumbkow „weibliche Expeditionspläne“.

Euphorisch über die „nordische Seele der isländischen Frau“ äußert sich Hugo Scholz in „Meine Island-Fahrt“, unternommen 1935, erschienen 1939 in Braunau/Böhmen. Er weiß, daß die „stolze Germanin“ in ihrem Inseldasein von dem „sittlichen Verfall des europäischen Festlandes“ zum Großteil verschont geblieben sei. Allerdings scheinbar nicht alle: „Die Menschen in Reykjavik sind ganz modern, viel zu modern gekleidet.“ Selbst in Isafjördur, einem Fischerstädtchen am Ende der Welt, erblickt er empört ein junges Mädchen mit geschminkten Lippen: „Lippenstifte und andere Schönheitsartikel, Aufklärungsschriften und ähnlicher Mist werden von den Isländern in naiver Ahnungslosigkeit als die höheren Lebensgüter gierig aufgenommen.“ In den Auslagen der Buchhändler entdeckt der Nationalsozialist auf der Suche nach dem wahren Germanentum „Schriften über sexuelle Aufklärung neben sowjetrussischen Literaturerzeugnissen“. Die „kommunistische Wühlarbeit“ habe eben auch hier begonnen, Island müsse erst durch all „diesen Schmutz“ hindurch, um „sich endlich wieder selbst zu finden“. Das Land nennt er tapfer „Raum ohne Volk“ und folgert: „Hier gibt es noch Boden für 100.000 Siedler.“

Die 100.000 Siedler sind ausgeblieben, statt dessen sind zwischen 1945 und 1949 über 200 alleinstehende Frauen aus dem zerstörten Nachkriegsdeutschland nach Island ausgewandert. Heute richtet sich das Interesse deutscher Reiseberichte verstärkt auf die Abwesenheit des Menschen, auf „unberührte Landschaften“.

„Die wirklichen Naturliebhaber und -kenner wissen sowieso, wo sie die Seehunde finden“, schreibt Frank Schroeder in „Die Eisumschlungene“ über einen Geheimtip. Selbst das GEO-Spezial „Nordmeer“ – Island, Spitzbergen, Grönland (8/1996) zeigt sich von Skrupeln geplagt: „Einerseits waren wir gepackt von eine Nordmeer-Euphorie, die wir auch Ihnen mit diesem Heft vermitteln möchten. Andererseits besorgt, ob nicht durch die Mobilisierung allzu vieler Besucher die Ursprünglichkeit der drei Inseln beschädigt würde.“ Denn: „Selten waren unbekanntere, unberührtere Gegenden Thema eines GEO-Spezial“, so Herausgeber Jens Rehländer.

Wie wahr: Der „Club 22“ in Reykjavik beispielsweise wird im Infoteil des GEO-Heftes als „Treffpunkt origineller bis ausgeflippter Heavy-Metal-Fans“ bezeichnet.

Tatsächlich handelt es sich um Islands einzige Schwulenkneipe, bei den Heavy-Metal-Fans dürfte es sich um die schwulen Ledermänner des MSC Reykjavik handeln. Und während das isländische Parlament mit 44 gegen 1 Stimme im August 1996 das weltweit fortschrittlichste Gleichstellungsgesetz für Lesben und Schwule verabschiedet hat – es beinhaltet unter anderem ein Adoptionsgesetz –, kauen in GEO-Spezial zwei einsame Männer auf einer einsamen Insel stundenlang auf Trockenfisch herum, hofft die hochschwangere Freundin des einen auf das mit dem Unwetter kämpfende Postschiff, das sie zur Entbindung ins Krankenhaus bringen soll: „Sie trinken Schwarzen Tod, einen Branntwein. Sie sind stämmig, haben wasserblaue Augen und lächeln ständig.“ Hund Lappi liegt an der Tür und „verbellt Wiedergänger“. Landschaften, Stimmungen und Sehnsüchte werden den gängigen Wunschbildern und Klischees der Reisenden angepaßt. Statt der Hölle erwarten uns jetzt menschenleere Paradiese.

Frank Schroeder: „Die Eisumschlungene, Spurensuche in Island“. LundiPress, Eichstätt 1995

Ida Pfeiffer: „Nordlandfahrt: eine Reise nach Skandinavien und Island im Jahr 1845“. Promedia, Wien 1991

Jules Vernes: „Reise zum Mittelpunkt der Erde“. 1864, Fischer 1990

„Islandreisen. Aus alten Reiseberichten 1918–1939“. LundiPress, Eichstätt 1994

„GEO-Spezial Nordmeer“. Gruner + Jahr, Hamburg 1996