Herausforderer des Auges

■ Dem Tod Victor Vasarelys ging der Niedergang seiner Stiftung voraus. Die millimetergenauen Farbmusterbilder übernahm der Computer exakter und effizienter. Der entmündigte Künstler fühlte sich in den Neunzigern "vo

Seine Stiftung thront noch immer wie eine Burg auf einem Hügel vor der südfranzösischen Universitätsstadt Aix-en-Provence: ein futuristisches Vieleck aus fensterlosen quadratischen Elementen, die Victor Vasarély mit jenen sterilen Farbmustern bemalt hatte, die spätestens in den fünfziger Jahren das Markenzeichen des 1906 im ungarischen Pécs geborenen Künstlers geworden waren. 50 Kilometer weiter nördlich versucht ein didaktisches Museum im Renaissance-Schloß von Gordes seine gestalterischen Prinzipien zu erklären. Vasarélys Werke, die heute wie computeranimierte Abstraktionen wirken, entstanden nicht auf der Staffelei, sondern am Konstruktionstisch, nicht selten akribisch auf Millimeterpapier vorbereitet.

Wie seine britische Kollegin Bridget Riley wollte Vasarély, Absolvent des „Budapester Bauhauses“ von Bortnyk, die optische Wahrnehmung erforschen, indem er das menschliche Auge herausforderte. Winzige Verschiebungen im ansonsten streng geometrischen Aufbau seiner nicht selten monumentalen Bilder, kleine Farbnuancierungen ließen das stabile Gefüge scheinbar zusammenbrechen und definierten so Raum, Licht, Farbe und Fläche neu. „Optische Kinetik“ nannte Vasarély diese Arbeiten. Für sich selbst lehnte er die Bezeichnung „Maler“ ab, er sei ein „plasticien“, ein „bildender Künstler“. Am vergangenen Wochenende ist Victor Vasarély in einem Altersheim in Paris gestorben.

Das Scheitern seiner Utopie hat Vasarély, entgegen allen anderslautenden Berichten von Altersdemenz oder geistiger Umnachtung, noch selbst miterlebt. Sein Konzept, die Städte mit Kunst durchdringen zu wollen, schien zwar in den siebziger Jahren ansatzweise zu funktionieren. damals schufen des Künstlers Assistenten nach seinen Entwürfen großformatige Kachelbilder für die Universitäten in Bochum und Marseille, für die Deutsche Bank in Frankfurt und den Gare Montparnasse in Paris. Renault mochte auf Vasarélys Kunst am Bau ebensowenig verzichten wie RTL, und in jedem zweiten europäischen Wohnzimmer hingen und standen seine in Hunderterauflagen gedruckten Serigrafien und industriell reproduzierten Skulpturen neben der Polstergarnitur. In den achtziger Jahren begann dann aber der stetige Niedergang des Vasarély-Imperiums. Die Computerkunst hatte seine Arbeit ersetzt, seine Gesundheit ließ rapide nach.

Als 1991 Vasarélys Frau Claude starb, die sich bis dahin aktiv um die 1971 gegründete Stiftung in Aix-en-Provence gekümmert hatte, begann vor den französischen Gerichten ein Rechtsstreit, der bis heute nicht abgeschlossen ist. Vasarély selbst wurde im Auftrag seines Sohnes entmündigt und in das vornehme Pariser Altersheim „Résidence de Chailot“ untergebracht.

Dem inzwischen inhaftierten ehemaligen Stiftungsdirektor Charles Debbasch, einem ehemaligen Dekan der Juristischen Fakultät an der Universität von Aix, wirft die Familie des Künstlers unterdessen vor, er habe aus dem Stiftungsbestand illegal Kunstwerke verkauft. Debbasch, der zwischenzeitlich in einen Hungerstreik getreten war, bestreitet diese Vorwürfe und beschuldigt seinerseits die Vasarély-Erben, sie hätten Tausende von gefälschten Grafiken des Künstlers in Umlauf gebracht.

Seit einem Brand vor zwei Jahren ist das Stiftungsgebäude dringend renovierungsbedürftig, durch das undichte Dach tropft der Regen. Gutachter schätzen die dafür anfallenden Kosten auf 3,7 Millionen Mark. „Die Familie besitzt nicht mehr die Mittel für die Renovierung“, ließ Vasarélys Tochter Michéle schon damals wissen. Inzwischen ist der Schuldenberg noch einmal heftig gewachsen. Eine Steuerprüfung vor drei Monaten ergab, daß Kunstwerke im wert von 43 Millionen Francs, umgerechnet etwa 13 Millionen Mark, verschwunden sind. Für die vermuteten Verkaufserlöse verlangt der französische Fiskus nun eine Nachzahlung in Höhe von 18 Millionen Francs. Ende dieses Monats wird die Fondation Vasarély in Aix-en- Provence deshalb endgültig geschlossen werden; ihre Werke will die Familie verkaufen. Vasarélys Söhne hatten in einem offenen Brief den französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac um Hilfe gebeten. Der antwortete, konnte die Schließung aber auch nicht verhindern.

Victor Vasarély selbst hatte noch im vergangenen Jahr aus Anlaß seines 90. Geburtstag dem Figaro ein Interview gegeben, in dem sich der entmündigte Künstler als äußerst wacher Geist zeigte. Die Skandale um seine Stiftung seien eine Folge seines Alters, kommentierte Vasarély damals: „Man hat nicht mehr die Kraft, sich um diese Angelegenheiten zu kümmern. Das Alter zeigt sich daran, daß man sich von eigenen Ideen überholt fühlt, die einem neu erscheinen.“ Stefan Koldehoff