Schuften für den Weltmarkt

In Guatemala arbeiten Frauen in koreanischen Betrieben für einen Hungerlohn – eine Folge des Internationalen Textilhandelsabkommens  ■ Von Annette Wagner

Edna Mariela Ordonez legt die Metallschablone auf den zugeschnittenen Stoff, knickt – oben, unten, links, rechts – die Nahtzugaben um. Dann greift sie zur nächsten Brusttasche. Diese sechs Handgriffe macht sie täglich elf Stunden lang, abzüglich einer halben Stunde Mittagspause. Ellbogen an Ellbogen arbeiten tausend Frauen in der stickigen Wellblechhalle von „Lindotex“, einer Textilfabrik zweieinhalb Kilometer außerhalb der guatemaltekischen Hauptstadt.

Wenn Edna ihre Augen über die hohen Berge zugeschnittener Stoffe und halbfertiger Herrenhemden hebt, fällt ihr Blick unweigerlich auf eine der Tafeln, die der südkoreanische Fabrikbesitzer aufhängen ließ. Die sagen ihr, daß sie noch schneller arbeiten muß: Sie zeigen Tagessoll und Stundensoll an. Von den Nähmaschinen wirbelt feiner Stoffstaub auf, doch keine der Frauen in der Lindotex- Halle trägt einen Mundschutz.

Edna arbeitet, wie die meisten ihrer Kolleginnen, nach Stückakkord. Erreicht die 16jährige das hochgesteckte Tagesziel nicht, muß sie länger bleiben. Wenn Fabrikbesitzer Hark Yong Park mit einer größeren Lieferung in Verzug ist, behält er seine Belegschaft manchmal auch über Nacht in der Fabrik. Nein, sagt Edna, bei Lindotex wird man für solche unfreiwilligen Extraschichten nicht eingeschlossen. Oder gar – wie Arbeiterinnen aus anderen koreanischen Textilfabriken berichten – mit Schlägen zum Weiterarbeiten gezwungen. Aber wie sollte Edna heimkommen, wenn kein Bus mehr in ihr zwei Stunden entferntes Heimatdorf fährt? Also arbeitet sie weiter – manchmal bis zum Umfallen.

Edna ist Hilfsarbeiterin in einer Maquila. Maquila bedeutet soviel wie: Fabrik, die für den Weltmarkt produziert. Das klingt nach einer wirtschaftlichen Chance für Guatemala, ein Land, das gerade 36 Jahre Bürgerkrieg hinter sich hat. Faktisch ist es jedoch vor allem für ausländische Unternehmer vorteilhaft, die den kleinen zentralamerikanischen Staat als Einfallkorridor in den begehrten US- amerikanischen Textilmarkt entdeckt haben. Die einstigen Billiglohnländer Asiens haben die noch erheblich günstigeren Arbeitskräfte Mittelamerikas unter sich aufgeteilt: Japan operiert vor allem in Mexiko und Costa Rica, Taiwan in Honduras und Nicaragua. Und Süd-Korea läßt in El Salvador und Guatemala nähen.

So lassen sich die Bestimmungen des Internationalen Textilhandelsabkommens umgehen, das jedem Land nur begrenzte Importquoten in die USA zugesteht. Sein landeseigenes Kontingent hat Süd- Korea längst ausgeschöpft. Nun profitiert man von der Quote Guatemalas: Die Hälfte des guatemaltekischen Textilimports in die USA kommt derzeit aus koreanischer Produktion. Kleider in Guatemala zusammennähen zu lassen lohnt sich für ausländische Fabrikanten außerdem, weil sie dort keine Zölle und Steuern zahlen müssen.

Im Jahr 1989 wurden sogar die Importzölle für Rohstoffe, Halbfertigwaren und Maschinen abgeschafft. Seitdem boomt die Maquila-Industrie. Innerhalb von knapp zehn Jahren schossen in Guatemala 250 solcher Weltmarktfabriken aus dem Boden, in denen 70.000 Menschen arbeiten – ein Drittel der im industriellen Sektor Beschäftigten.

Edna könnte sich das Ralph- Lauren-Hemd, dessen Brusttasche sie vorbereitet, selbst niemals leisten: Ein solches Hemd kostet in Deutschland zwischen 160 und 2.000 Mark. Edna verdient als Hilfsarbeiterin am Tag 12 Quetzales, umgerechnet knapp 3 Mark. Dafür kann sie gerade mal drei Pfund Bohnen kaufen. Oder zwei Tage lang den Familienbedarf an Tortillas. Ednas Verdienst liegt unter dem derzeitigen gesetzlichen Mindestlohn von 17,60 Quetzales. Das, so hat ihr Chef eben noch behauptet, komme bei Lindotex nicht vor.

Der Nutzen der ausländischen Maquilas für Guatemalas Volkswirtschaft ist umstritten. Manche sehen darin den guatemaltekischen Einstieg in den Weltmarkt. Doch außer den Hungerlöhnen der (zu 90 Prozent weiblichen) Belegschaft bleibt von den 30 Millionen US-Dollar Umsatz, die Ednas Chef Hark Yong Park jährlich macht, in Guatemala nichts hängen. Für seine Fabrik hat er vier Mauern hochhgezogen und ein Wellblechdach daraufgelegt. Die Nähmaschinen und Packtische sind ebenso schnell aufgestellt wie später wieder abgebaut. Und seine Zulieferbetriebe sind nicht etwa guatemaltekische Spinnereien und Webereien: Die Stoffe werden aus Süd-Korea angeliefert.

Doch Edna ist dankbar für die unterbezahlte Hilfsarbeit bei Lindotex. Es ist ihre erste Stelle. Sie ist froh, die Armut ihrer Familie lindern zu können. Und sie ist froh, nicht mehr zu den 50 Prozent Arbeitslosen des Landes zu gehören. „Eigentlich geht es uns bei Lindotex gut“, sagt sie. Das heißt, daß die Arbeiterinnen hier selten geschlagen werden. Es gebe auch keine sexuelle Belästigung oder gar Vergewaltigung durch die koreanischen Fabrikaufseher, wie etwa beim Betrieb „Sambo“ in St. Lucia, wo eine ihrer Freundinnen arbeitet. Bei Lindotex würden auch keine Aufputschmittel verabreicht, damit die Arbeiterinnen die überlangen Schichten in der brütenden Hitze durchstehen.

„Wir holen die Mädchen von der Straße“, sagt der südkoreanische Botschafter Jin-Yup Chu und faltet stolz die Hände, als sei er Sozialamtsleiter und die Arbeiterinnen bekämen ihre Löhne von ihm persönlich geschenkt. „Außerdem geben wir den Frauen eine Ausbildung.“ Das ist eine dreiste Behauptung. Genügt doch ein Blick durch die Lindotex-Halle, um zu sehen, daß selbst in der von ihm ausgewählten Vorzeige-Maquila der Produktionsprozeß in stupide Handlangerarbeiten zerstückelt ist.

Edna entspricht dem Wunschprofil der Firmenchefs. Sie beschäftigen am liebsten junge Landfrauen zwischen 16 und 26 Jahren (häufig illegalerweise auch jüngere), Indigena-Frauen, die als fügsam gelten und fingerfertig sind. Daß sie ledig bleiben, dafür sorgen schon die unmenschlichen Arbeitszeiten. Edna muß schon um halb fünf aufstehen, damit sie um halb sieben anfangen kann. Sie kommt zwischen halb zehn und halb zwölf heim, fällt dann ins Bett. Wie sollte sie da eine Familie gründen?

Andere Textilarbeiterinnen sind weniger genügsam als Edna. Sieben Prozent von ihnen haben sich mittlerweile gewerkschaftlich organisiert. „Wir sind doch keine Sklavinnen, sondern Arbeiterinnen mit Rechten“, empört sich Maria Teresa Ortiz Menendez. Im Haus von „Unsitragua“, dem Dachverband der guatemaltekischen Gewerkschaften, berichten sie und andere Genossinnen über Verletzungen von Arbeits- und Menschenrechten in den koreanischen und den US-amerikanischen Textilfabriken in Guatemala- Stadt: Reina Victoria Rivera arbeitet beim koreanischen Unternehmen „Mi Kwang“. Weil dort für 500 Arbeiterinnen nur zwei Toiletten zur Verfügung stehen und die Arbeitsplätze schlecht beleuchtet und belüftet sind, leiden viele Frauen unter Nieren- und Augenkrankheiten.

Kein Einzelfall ist, was einer Kollegin von Maria Teresa Ortiz Menendez bei der koreanischen Firma „M.J. Modas“ zustieß: Sie wurde von ihrem Chef um das Krankengeld betrogen. Als sie es bei der Sozialversicherungsanstalt abholen wollte, bekam sie keinen Pfennig, weil die Betriebsleitung zwar die Sozialabgaben vom Lohn einbehalten, auf ihren Namen jedoch nie etwas einbezahlt hatte.

Rosa Delir Galicia demonstrierte drei Jahre lang vor dem Werkstor ihres Arbeitsplatzes, der US-Maquila „Inexport“, auf Wiedereinstellung. Ihr Chef hatte die Fabrik geschlossen, weil er die seit Monaten ausstehenden Löhne nicht auszahlen konnte.

„Wir mögen Gewerkschaften nicht“, sagt der südkoreanische Botschafter indigniert. „Keine Fabrik hat länger als drei Monate überlebt, nachdem dort eine Gewerkschaft gegründet wurde.“ Aus seiner Sicht bringen konzertierte Verleumdungskampagnen der arbeitsunwilligen Guatemaltekinnen über kurz oder lang den Produktionsprozeß zum Erliegen. (Darüber, daß in seiner Heimat Süd- Korea ebenfalls Fabrikarbeiter gegen unmenschliche Ausbeutung mobil machen, schweigt er an dieser Stelle übrigens vornehm.) Die Gewerkschafterinnen gehen davon aus, daß die Produktion für die Koreaner nicht mehr so einträglich ist, wenn sie in einzelnen Firmen menschenwürdige Arbeits- und Pausenzeiten, angemessene Löhne, sanitäre Anlagen und Sicherheitsvorkehrungen einfordern.

Und deshalb passiert es, daß umkämpfte Arbeitsplätze im wahrsten Sinne des Wortes über Nacht abgebaut werden. Wenn die Näherinnen morgens in die Fabrik kommen, finden sie eine leere Halle vor. Der Besitzer ist mitsamt den noch zu zahlenden Löhnen verschwunden. Kurze Zeit später eröffnet er die Fabrik auf einem anderen Gelände unter anderem Namen neu.

Edna weiß nicht, was eine Weltmarktfabrik ist. Sie weiß auch nichts über neoliberalistische Wirtschaftspolitik. Für sie zählt einzig und allein, daß sie einen Job hat. Daß sie sich beruflich nicht weiterqualifiziert, ist ihr nicht bewußt. Edna ist erst neun Monate bei Lindotex. Ein komplettes Hemd könnte sie auch in neun Jahren noch nicht schneidern. Geschweige denn eine Nähmaschine warten oder gar reparieren, wenn sie sich irgendwann mal selbständig machen wollte.

Oder sich selbständig machen müßte. Denn allzu sicher ist Ednas Arbeitsplatz nicht. Möglicherweise zieht die Masche der Maquila-Industrie nicht mehr lange, ziehen sich die asiatischen Investoren bald aus Zentralamerika zurück. Wenn im Jahr 2005 die Quotenregelungen des Textilhandelsabkommens fallen, geht damit auch der Standortvorteil Guatemalas verloren. Und die Lohnkosten werden für die Unternehmer dann nicht mehr so attraktiv niedrig sein wie jetzt.