„Wir Erwachsene sind intoleranter“

■ Erliegt Bremen der „Kinder- und Jugendkriminalität“oder umgekehrt? Eine CDU-Fachtagung

Bremen ist wahrscheinlich nicht die Hochburg der „Kinder- und Jugendkriminalität“, obwohl die angezeigten und ermittelten Delikte von unter 20jährigen im Jahr '95 auf 6.000 angestiegen sind. LehrerInnen wollen nicht alleine dafür verantwortlich sein, daß auf ihren Schulhöfen Diebstähle und Körperverletzungen begangen werden. SozialpädagogInnen fordern mehr Bewußtsein für die Lebenssituation der Jugendlichen („Wer Probleme macht, hat welche!“) sowie die finanzielle Unterstützung und nicht Strangulierung der Jugendarbeit. Und Prof. Dr. Christian Pfeiffer, Leiter des Kriminologischen Instituts Niedersachsen, sieht die zukünftige Hauptdelinquentengruppe in vernachlässigten und (sprachlich) ausgegrenzten Aussiedlerkindern und -jugendlichen.

Zu diesem Mosaiksteinchenergebnis kam die Fachtagung der CDU-Bürgerschaftsfraktion zum Thema „Kinder- und Jugendkriminalität in Bremen“am Donnerstag abend. Es gab viele Bestandsaufnahmen, diverse Blickwinkel, Rechtfertigungen. Christian Pfeiffer vertrat als einzige langfristig effektive Lösung: „Geben wir den Jugendlichen wenigstens eine gute Ausbildung! Hören wir doch auf mit dem Jammern! Gründen wir Bürgerstiftungen in jeder Stadt!“

Es rumorte unter den anwesenden rund 300 BremerInnen, eine Lehrerin bezichtigte Pfeiffer der „Gutsherrenart“. Pfeiffer – enger Berater der niedersächsischen SPD-Landesregierung – hatte mit viel statistischem Material den Anstieg der Kinder- und Jugendstraftaten (bei Kindern vor allem Ladendiebstähle, bei Jugendlichen vor allem Raubdelikte, dicht gefolgt von Gewalttaten) in Bremen ausgeführt. Der Grund ist für ihn die sich verfestigende „Winner-Loser-Kultur“in Deutschland. „Große Initiativen von Politikern können Sie nicht mehr erhoffen.“

Das hörten die BremerInnen nicht gern. Immer wieder wurde bei der Tagung der Beelzebub – wer denn nun versagt habe – hin- und hergeschoben. „Was sollen wir noch alles tun? Ein Vater forderte, ich müsse endlich mal seinen Sohn richtig erziehen“, erzürnte sich ein Lehrer. „Beziehen Sie die Eltern mehr ein, interessieren Sie sie!“konterte ein Sozialpädagoge. Die Schulen hätten das Thema zu lange abgeblockt, bemängelte jüngst der neue Jugendbeauftragte der Bremer Polizei, Wolfgang Merdes. Uniformierte Polizeibeamte als Aufsicht auf dem Schulhof – wie inzwischen von einigen Bremer Schulen angefordert – seien nicht erstrebenswert.

Die wolle er auch nicht haben, so Dr. Hans-Dieter Vogt, Schulleiter am Schulzentrum Willakedamm in Huchting. Ende letzten Jahres war dort angeblich der ganze Stadtteil von kriminellen Jugendlichen aus dem Umfeld der Schule übersät worden. Der Polizei zufolge waren es jedoch „nur acht, sechs davon mittlerweile jugendgerichtlich verurteilt“. Der Schule war damals Inkompetenz und Ignoranz vorgeworfen worden. „Wir haben inzwischen einen pädagogischen Tag und eine Umfrageaktion durchgeführt“, berichtete Vogt nun auf dem Tagungs-Podium. 570 von 600 SchülerInnen hätten die Fragen der 60 LehrerInnen (die Jüngste ist 44) beantwortet. Sehr vage wurde dabei mit der Auffassung von „Gewalt“jongliert, eine Formulierung lautete etwa: „Wurdest du schon einmal gezwungen, Geld herzugeben, Hausaufgaben abschreiben zu lassen, bei Klassenarbeiten abschreiben zu lassen?“– 10 Prozent der SchülerInnen antworteten mit Ja, 90 Prozent mit Nein.

„Solche Aktionen müssen weitergeführt werden“, forderte Horst Peter Hegeler vom Schulpsychologischen Dienst sofort. „Richten Sie ein Kontakt-Telefon für anonyme Aussprachen und Anzeigen ein. Diskutieren Sie mit den Jugendlichen. Machen Sie mehr Öffentlichkeitsarbeit! Und nehmen Sie Supervision.“

Eine Qualifizierung des Täter-Opfer-Ausgleichs, mehr ortsnahe Schlichtung, mehr Ausbildung im Jugendknast wurden noch ins Gespräch gebracht; irgendwann während des vierstündigen Symposiums erwähnte einmal Andrea Müller von der Jugendbildungsstätte „Lidice-Haus“: „Hier wird zu viel über Jugendliche geschimpft. Der übergroße Teil von ihnen hat mit dem Thema nichts zu tun. Wir Erwachsene sind nur intoleranter geworden.“

Wie abstrus der Begriff „Kriminalität“selbst unter Jugendlichen werden kann, zeigt folgendes reales Beispiel: Drei Jungs nehmen einem vierten 20 Mark ab. Der muß aber noch mit dem Bus nach Hause fahren. Der 20-Mark-Schein wird am Kiosk gewechselt und auf vier mal fünf aufgeteilt. sip