Krieg schnuppern in Vietnam

Khe Sanh hat sich als Kriegsschauplatz ins Gedächtnis eingegraben. Chen ist Reiseführer in dieser entmilitarisierten Zone. Vietnam wirbt Touristen mit Kriegsgeschichten und unberührter Landschaft  ■ Von Jeannette Goddar

Chen dreht die Musik auf. Er scheint es weder zynisch noch unangemessen zu finden, den australischen Rockbarden Jimmy Barnes durch den Minibus schallen zu lassen. „I lost my heart in the battle of Khe Sanh“, dröhnt es. Der Protagonist des Songs ist Australier, 19 Jahre alt und wird 1968 zur Unterstützung der US-Truppen in den Krieg gegen den Vietcong geschickt. Chen mag das Stück. „Es sagt mir sehr viel“, sagt er. Elf Ausländer gucken ihn entgeistert an. Für ihn sollte das die Musik des Klassenfeindes sein. Noch bevor der Song zu Ende ist, reißt er uns aus unseren Gedanken. „Wir sind gleich da, aber erwarten Sie nicht zuviel, und nehmen Sie Ihre Regenjacken mit. Passen Sie auf, daß Sie nicht ausrutschen, und verlassen Sie nicht den Weg.“

Doch wer hierherkommt, hat Bilder im Kopf, die ihn zuviel erwarten lassen müssen. Khe Sanh hat sich nicht als Ortsname, sondern als Kriegsschauplatz in das Gedächtnis der Weltöffentlichkeit eingegraben. Bilder des Grauens, von napalmverbrannter Erde und Menschen gingen von hier um die Welt, Bilder tagelanger Kämpfe um nichts als ein Stück Land in den Bergen, zwischenzeitlich zur Versorgungsbasis für US-Marines umfunktioniert. Hier sollte die große Schlacht des Vietcong gegen die USA stattfinden – glaubten die Amerikaner. Präsident Lyndon B. Johnson ließ ein Miniaturmodell der – bis dahin strategisch völlig uninteressanten – Basis im Weißen Haus nachbauen. Zehntausend Soldaten wurden zusammengezogen. Die US-amerikanische Öffentlichkeit zitterte mit: Khe Sanh durfte nicht fallen. Im Januar 1968 war die Eskalation vollkommen: Der Kampf begann, US-amerikanische B 52 warfen 162 Tonnen Bombenmaterial ab. 1.000 Nordvietnamesen und 248 US-Amerikaner starben. Später stellte sich heraus, daß der Vietcong „Khe Sanh“ dazu genutzt hatte, seine Truppen um Saigon massiv zu verstärken. Kurz nach der „Befreiung“ von Khe Sanh wollten auch die USA nicht bleiben. Es folgten der Abzug und unbeholfene Erklärungsversuche dafür, daß ein Militärstützpunkt von einem Tag auf den anderen vom Bollwerk der westlichen Welt zum überflüssigen Stück Land werden konnte. „Mehr ein Spektakel als eine Militäroperation“, kommentierte damals ein US-Kriegskorrespondent.

Chen hat nur halb recht. Daß es nichts zu sehen gibt, ist genau das, was es zu sehen gibt. Nur mit Mühe lassen sich in der braunen Erde die Reste eines Rollfeldes erkennen. Heute wird hier Kaffee angebaut, die Erde gilt – trotz allem – als fruchtbar. Etwa 50 Männer und Frauen hocken in einem Feld. Der strömende Regen scheint sie nicht zu irritieren. Es regnet oft in Khe Sanh. Das war auch eine der größten Ängste der GIs: in der Regenzeit angegriffen zu werden; dem dschungelerprobten Vietcong hoffnungslos unterlegen zu sein. Auch heute noch ist das Bild des Friedens in den Kaffeeplantagen nicht perfekt: Hin und wieder hebt einer der Vietnamesen, die allesamt zu jung sind, um viel vom Krieg mitbekommen zu haben, die Hand: und wirft mit unbeteiligter Miene in hohem Bogen eine halbe Handgranate oder Bombenreste aus dem Feld. Nach der Arbeit wird alles eingesammelt – 20 Jahre nach Kriegsende verdienen die Menschen, die hier leben, immer noch an dem Metallschrott: Pro Kilo Stahl gibt es 0,03 US-Dollar, pro Kilo Aluminium 0,38 Dollar. In den Dörfern stehen Pfahlbauten, die nicht von Pfählen, sondern von Raketen gehalten werden.

Der 25jährige Chen hat hier seinen ersten festen Job: Nach seinem Englischstudium hat „DMZ Tours“ ihn als Reiseführer angestellt. „DMZ“ steht für „entmilitarisierte Zone“. Der Name, der ebenso ein Zynismus sein könnte, ist die immer noch gängige Bezeichnung des Gebiets rund um den 17. Breitengrad, an dem das Genfer Friedensabkommen 1954 Vietnam in Nord- und Südvietnam geteilt hat. Als wir an dem ehemaligen Grenzfluß stehen und von Süd nach Nord gucken, erklärt uns Chen: „Sie müssen sich das so vorstellen wie die Mauer um Berlin. Wenn einer Pech hatte, wohnte sein Bruder auf der anderen Seite vom Fluß. Dann durfte man sich nicht mehr sehen. Und die Briefe gingen über Paris nach Hanoi, bevor sie den anderen erreichten.“ Im Vietnamkrieg – hier „Amerikanischer Krieg“ – war das Grenzgebiet Schauplatz einiger der heftigsten Kämpfe. Aus der DMZ stammen die meisten Schauergeschichten traumatisierter GIs – wie die von einem durchgedrehten jungen Rekruten, der einen anderen beim Gang aufs Klo in die Luft gesprengt hat. Nichts war so schön, wie aus Khe Sanh ausgeflogen zu werden“, beschrieb US-Reporter Michael Herr die Gefühle derer, die hier Dienst taten, gleich weit weg von Saigon wie von Hanoi, „in the middle of nowhere“.

Erst seit kurzem ist das Gebiet für Ausländer offen. „DMZ“ ist der einzige Touranbieter, Individualtourismus gibt es nicht. Zu gefährlich, heißt es. 1991 kamen 68 Touristen, 1995 schon 68.000. Und Vietnam setzt immer stärker auf Devisen, wirbt mit Kriegsgeschichten ebenso wie mit unberührter Landschaft. Unsere Reise ist die erste seit sechs Wochen: DMZ Tours hat gestreikt, weil das Volkskomitee der Provinz Quang Tri mehr Geld haben wollte.

Doch das „Krieg gucken“ entpuppt sich als schwierig. Da sind die Fernsehbilder im Kopf, die sich vermischen mit in Thailand oder auf den Philippinen gedrehten Szenen aus Stones „Platoon“ oder Coppolas „Apocalypse Now“. Und hier sind Bilder arbeitender Menschen, Kinder, die mittags um eins in die Schule gehen: In der Schule ist Schichtbetrieb; die Vormittagsklasse ist auf dem Heimweg. So viele Kinder gibt es hier wieder. Wasserbüffel stehen gelangweilt am Fluß. Trotz des Friedens leben sie immer noch auf verbrannter Erde. Bombenkrater reiht sich an Bombenkrater, die Spuren der mühseligen Wiederaufforstung sind unübersehbar. Wo früher Regenwald war, stehen drei Meter hohe Eukalyptusplantagen, eine Spende aus Australien. „Alles andere ist hier eingegangen“, sagt Chen. „Hier wächst nur noch Gestrüpp.“ Was man gar nicht sieht, ist die tödliche Gefahr im Boden: Seit 1975 sind in und um die DMZ fünftausend Menschen durch Minen getötet oder verwundet worden.

In den Tunneln von Vinh Moc kommt man der Vergangenheit näher. Mit Taschenlampen in der Hand quälen wir uns durch ein 2,8 Kilometer langes Netz von Schächten, in dem die 200 Einwohner des gleichnamigen Ortes 1967 bis 1969 und von 1972 bis 1973 gelebt haben – vor den permanenten Bombenangriffen unter die Erde geflüchtet. In einem achtzehnmonatigen Kraftakt haben sie sich mit ihren Händen in die Dunkelheit gegraben. Chen erzählt, der winzige Ort habe 9.680 Tonnen Bombenmaterial abbekommen. Auch in den Tunneln waren die Menschen nicht sicher: Schnell erfanden die USA spezielle Bomben, die sich in die Erde drehten. Unter den Schächten wurden weitere gegraben. Die ersten in unserer Gruppe bekommen schon nach zehn Minuten in geduckter Haltung klaustrophobische Anwandlungen, Atemnot, Schweißausbrüche. Die erste Beziehungskrise bahnt sich an. Wie muß ein Leben hier unten gewesen sein? Zimmerbesichtigung: Schlafzimmer, Versammlungsraum, Kreißsaal. Siebzehn Kinder wurden hier in der Dunkelheit geboren. Vielleicht hocken sie heute in den Kaffeeplantagen – die Schule müssen sie jedenfalls längst wieder verlassen haben.

An der Oberfläche demonstriert ein Museum das Leben von Vinh Moc – mit Fotos der Bauarbeiten, von strahlenden Eltern mit ihrem Neugeborenen auf dem Arm, neben Karten, auf denen Luftangriffe und Bombentypen eingezeichnet sind. Im Eingang liegt ein Gästebuch. „Sie haben es nicht verdient“, steht da. „Ich wünsche allen Vietnamesen ein langes Leben, Frieden und Glück.“ Gezeichnet Mary Miller, Michigan/ Colorado. Und: „Ich bin froh, daß ich noch einmal wiedergekommen bin. Es ist heilsam.“ Hugh Watson, Veteran, Washington D.C.

Letzter Programmpunkt: Der Ho-Chi-Minh-Pfad, genaugenommen ein winziger Teil des 16.000 Kilometer langen Wegenetzes, dessen größter Teil nicht in Vietnam, sondern im benachbarten Laos lag. 15 bis 60 Tonnen Material wurden hier täglich zur Unterstützung des Vietcong in den feindlichen Süden geschickt. Optisch ist er notwendigerweise eine Enttäuschung; schließlich wurde er angelegt, um unsichtbar zu sein. Dennoch meint man, sie zu sehen: Zigtausende von Frauen und Kindern, die den Pfad durch den Dschungel schlagen mußten, von denen Tausende an Malaria starben. Männer in weißen T-Shirts, die in der Dunkelheit vor den Lkws, die das Licht nicht anmachten, um nicht entdeckt zu werden, herstapften und den Weg wiesen. Ausbrechende Lkws, die aus den US-Hubschraubern entdeckt wurden, deren Fahrer freiwillig in den Tod gingen, um den Rest des Konvois nicht zu gefährden. Angehörige von Bergstämmen, von den USA wegen ihrer Orientierungsfähigkeit im Dschungel rekrutiert. Batteriebetriebene Sensoren, die wie Pflanzen aussahen, von den Amerikanern aufgehängt, um den Feind aufzuspüren. Vietcong, die die Akustiksensoren mit Kassettenrecordern täuschten, die Geruchsmelder mit Säcken von Büffelurin. Doch all diese Bilder entspringen der Phantasie: Den eigentlichen Pfad hat der Dschungel sich zurückgeholt.

Als Mitarbeiter eines Reisebüros ist Chen mit Sicherheit von der vietnamesischen Regierung auf Herz und Nieren überprüft worden. Doch das schert ihn wenig. Sozialistische Propaganda – wie sie in den Museen in Hanoi und Saigon an der Tagesordnung sind, liegt ihm fern. „20 Jahre Krieg für gar nichts“, sagt er. Für gar nichts? Und der Sieg? „Einen Krieg kann man nicht gewinnen. Wir haben viereinhalb Millionen Menschen verloren.“ Das sind Nord- und Südvietnam zusammen – auch keine Selbstverständlichkeit. Bis heute bekommen Veteranen der Südarmee keinerlei staatliche Unterstützung. „Die Leute sind tot. Ihnen hilft es nichts, daß Vietnam und USA sich heute die Hände schütteln.“