■ Die Multikulti-Gesellschaft ist nicht gescheitert. Aber Verteilungskämpfe stellen neue Herausforderungen. Die Pflege ethnischer Schrebergärten führt in Sackgassen
: Entwicklungen ernster nehmen

Multikulturelle Gesellschaften entstehen nicht, weil die Menschen aufeinander neugierig sind, sondern aufgrund ökonomischer Zwänge – Arbeitermangel hier, Arbeitsmangel dort. Dieser Zusammenhang bleibt relativ unbedeutend, solange die Verteilungen von materiellen Gütern reibungslos verlaufen. Gleichzeitig ist es eine Illusion zu glauben, daß Arbeitsplatzabbau, Abbau sozialstaatlicher Leistungen und der Abbau der Zahl der Ausbildungsplätze ausgerechnet am Zustand unserer ethnisch-kulturell vielfältigen Gesellschaft spurlos vorübergehen würden. Daß die Minderheiten ebenso wie die Mehrheit darauf reagieren, ist nur „normal“. Die Frage ist allerdings, wie sie dies tun. Dieser Frage keine Aufmerksamkeit zu schenken, können sich nur jene leisten, die fern der Wohnquartiere oder Stadtviertel leben, in denen der multikulturelle Alltag zum Teil in sehr angestrengter Weise gelebt werden muß.

Mit der Zuspitzung sozialer und ökonomischer Krisen geht auch in Deutschland eine Ethnisierung sozialer Konflikte einher. Ethnisch- kulturelle Gruppenzugehörigkeiten werden aktiviert oder erst konstruiert, um sich Vorteile im Verteilungskampf zu verschaffen. Der Prozeß der Fremdethnisierung ist uns wohlbekannt. Vorrangig Angehörige der Mehrheitsgesellschaft verhalten sich so gegen Minderheiten. Aber auch Angehörige von Minderheiten spielen auf der Klaviatur der Ethnisierung, um ihre Position im Verteilungskampf zu verbessern. Für die Selbstethnisierung ist die Religion besonders geeignet. So lassen sich zum Beispiel Vorurteile und Ressentiments vieler Deutscher gegenüber der islamischen Religion zur Binnenintegration funktionalisieren. Inzwischen deutet vieles darauf hin, daß einige Vertreter türkischer Interessenverbände zur Mobilisierung ihrer Mitglieder von einen „Feindbild Islam“ geradezu abhängig sind, um sich deren bedingungsloser Loyalität zu versichern.

Die Prozesse der Fremdethnisierung als auch der Selbstethnisierung sind in der Bundesrepublik unübersehbar. Klar ist auch, daß die Konflikte in einer Gesellschaft zunehmen werden, wenn etwa die Lebenschancen nach ethnischen Kategorien verteilt werden – mit unübersehbaren Konsequenzen vor allem für Minderheiten.

Augenblicklich deutet wenig darauf hin, daß die bundesrepublikanische Gesellschaft einen Begriff von diesen Konfliktpotentialen hat. Man gibt sich der trügerischen Hoffnung hin, alles werde gut, bloß weil etwas zeitweilig irgendwie funktioniert. Der Verlust des Bewußtseins von diesen Konflikten führt dazu, daß unterschwellig gefährliche Gewaltpotentiale ausgebrütet werden können. Dabei sind auf der Mehrheitsseite die massiven fremdenfeindlichen Stimmungen und die rechtsextremistische Gewalt allseits bekannt. Gleichzeitig muß man sich aber auch von der Vorstellung lösen, daß sich zum Beispiel alle Mitglieder der türkischen Gemeinschaft der Demokratie oder dem toleranten Spektrum des Islam zurechnen lassen. Niemand würde dies beim politischen oder religiösen Spektrum in der deutschen oder französischen Gesellschaft behaupten. Warum sollte man ausgerechnet bei den türkischen Migranten demokratiefeindlichen Tendenzen weniger Aufmerksamkeit schenken? Überall wird zu Recht Differenzierung eingefordert, nur an dieser Stelle soll darauf verzichtet werden. Diese Blauäugigkeit ist ebenso problematisch wie eine Sichtweise, die jeden Deutschtürken dem türkischen Nationalismus oder den islamistischen Gruppen zurechnet. Ein Eindruck, den der Spiegel vor einer Woche mit seiner Proklamation vom Ende der multikulturellen Gesellschaft erzeugt hat.

Die aktuelle Diskussion um die Probleme der entwickelten, ethnisch-kulturell vielfältigen Gesellschaft krankt an der Fülle von Unterstellungen und Vermutungen. Und da sich mit diesen bekanntlich alles behaupten läßt, ist der Widerstand gegen empirische Untersuchungen zum Problem „Ethnisierung sozialer Konflikte“ so stark. Die Reaktion auf unsere Untersuchung zu islamistisch-fundamentalistischen Orientierungen von türkischen Jugendlichen ist auch deshalb so vement, weil sie stört. Sie stört, wie andere Untersuchungen auch, die komfortablen Verdrängungen und bequemen Eigenbilder. Allerdings sehen wir in der klaren Benennung der Konfliktpotentiale die einzige Möglichkeit, Gewalt zu verhindern.

Eine konfliktregulierende Debatte ist allerdings an wenigstens drei Bedingungen gebunden:

1. ein Grundkonsens über wesentliche Grundsätze wenigstens des Nebeneinanderherlebens; 2. sind Übereinkünfte notwendig, wie die Diskussion „auf Dauer“ geführt werden kann und welche Institutionen sich darum kümmern; 3. sind die Chancen zur zivilen Konfliktregulierung vergleichsweise hoch, wenn sich die Interessenlinien vieler Menschen aus den unterschiedlichen Gruppen „überlagern“. Eine nüchterne Betrachtung des Ist-Zustands im Lande zeigt allerdings, daß diese Voraussetzungen nicht hinreichend vorhanden sind.

Als Alternative zur Diskussion der Konfliktpotentiale wird von manchen „Gleich-Gültigkeit“ gefordert, um in den Städten, und hier insbesondere in den segregierten Stadtvierteln, im Zeitalter der (Post-)Moderne alles zum gleichgültig Besten zu kehren. Bei einem solchen Ansatz werden die Alltagserfahrungen der Menschen ausgeblendet. Auch die mannigfaltigen Toleranzforderungen sind mit Vorsicht zu betrachten. So notwendig sie sind, wenn es um Anerkennung geht, so gefährlich ist Toleranz, wenn damit Konflikte umschifft werden sollen.

Die Debatte um eine Verstärkung der Integrationsanstrengungen ist nötiger denn je. Denn soviel ist sicher, die Integration darf nicht scheitern. Die Frage ist allerdings, wie die Entwicklung zu „Parallelgesellschaften“ aufgehalten werden kann. Das Dilemma ist offenkundig: Die Thematisierung etwa islamisch-fundamentalistischer Orientierungen kann Wasser auf die Mühlen fremdenfeindlicher Gruppen – und islamistischer Gruppen selbst – leiten. Die Nichtthematisierung ist aber ebenso ein Problem, weil der Zeitpunkt für halbwegs sozialverträgliche Debatten schnell verpaßt ist. Haben sich die Identitätspolitiken von Mehrheit und Minderheit einmal verfestigt, werden nur noch Abgrenzungsdebatten geführt. Wilhelm Heitmeyer