Bild der Radikalisierung

Der Kampf der Kulturen in der deutschen Jugendforschung. Die Heitmeyer-Studie liefert wenig Fakten, dafür unterschwellige Schlußfolgerungen  ■ Von Birgit Rommelspacher

Milli Görüș hat in die Dortmunder Westfalenhalle eingeladen, und 13.000 gläubige Muslime sind gekommen. Die Halle tobt, wenn die Menge ihren Führern zujubelt, die die Demokratie geißeln und die Laster der Ungläubigen beklagen... Mit der Schilderung dieser Szene werden wir in die wissenschaftliche Untersuchung von Heitmeyer und Kollegen zur Situation türkischer Jugendlicher eingeführt. Warum diese Einführung? Wollen die Forscher vor solchen Klischees warnen? Das könnte man meinen, denn sie betonen immer wieder nachdrücklich, wie sehr es ihnen darum gehe, ein differenziertes Bild von der Situation zu zeichnen, das weder der rechten Panikmache noch der linken „Blauäugigkeit“ aufsitzt. Sie selbst verorten sich quasi in der Mitte und verstehen sich als unparteiisch und objektiv.

Die Situation türkischer Jugendlicher in Deutschland, so ihr theoretisches Konzept, sei äußerst prekär, weil diese nicht nur wie ihre deutschen Altersgenossen unter Desorientierungen aufgrund von Modernisierungsprozessen zu leiden hätten, sondern zusätzlich noch unter einem „Kulturkonflikt“ und unter fremdenfeindlicher Gewalt. Die These von Gewalttendenzen aufgrund von Orientierungslosigkeit läßt sich jedoch durch die Untersuchung nicht bestätigen.

Interessanter hingegen die Frage nach der Belastung durch ein Leben „zwischen den Kulturen“: 90 Prozent der Jugendlichen geben an, damit zurechtzukommen. Ebenfalls sehr hoch der Prozentsatz derer, die mit dem Leben, so wie sie es führen, zufrieden sind. Ebenso überraschend – angesichts der Vorannahmen – das hohe positive Selbstwertgefühl der Jugendlichen. Um sich diese Diskrepanz zu erklären, fragen die Forscher weiter. Und nachdem über die Hälfte der Jugendlichen Fragen zustimmt wie „Ich werde oft ganz nervös“ oder „Ich muß häufig daran denken, was alles noch geschehen könnte“, ist für sie klar, daß das positive Selbstvertrauen auf „schwankendem Boden steht“ und „mit einem hohen Maß an Angst und Unsicherheit unterlegt“ ist.

Ähnlich wird auch ein weiteres, überraschend positives Ergebnis demontiert, nämlich daß das emotionale Verhältnis der türkischen Jugendlichen zu ihren Eltern wesentlich besser als das ihrer deutschen Altersgenossen ist. Auch dieses Ergebnis trügt nach Meinung der Forscher, denn sie wissen zu berichten, daß in türkischen Familien die Gesetze der Ehre wie im „dörflichen Islam“ herrschen und deshalb eine solche Wertschätzung der Familie eher Ausdruck von Traditionalismus sein muß.

Wertschätzung der Familie gleich Traditionalismus

Zum Traditionalismus der Türken gehört auch – wie jedermann in Deutschland „weiß“ – und so auch unsere Forscher – die Unterdrückung der Frau. Empirisch „beweisen“ sie dies nun damit, daß türkische männliche Jugendliche mehr als weibliche zu Gewalt neigen oder daß türkische Mädchen eher als deutsche mit Freundinnen anstatt mit einer Clique unterwegs sind; oder daß sie stärker als ihre Brüder ihre Eltern kritisieren. Die Tatsache, daß für türkische Mädchen der Beruf ganz selbstverständlich zur Lebensplanung gehört und daß sie ebenso hohe Bildungsabschlüsse wie die Jungen anstreben, ist für die Forscher kein Grund, ihre Thesen zu überprüfen; vielmehr führen sie das starke Bildungsstreben auf den Einfluß Deutschlands zurück. Daß türkische Familien auch von sich aus für ihre Töchter eine gute Bildung anstreben könnten, scheint unvorstellbar. So ist den Forschern wohl entgangen, daß in der Türkei der Anteil von Frauen an der Professorenschaft sowie beim Studium naturwissenschaftlicher und technischer Fächer bedeutend höher ist als in Deutschland.

Nun zum Kernpunkt der Untersuchung, der Frage nach der fundamentalistischen Radikalisierung türkischer Jugendlicher. Diese wird mit dem Überlegenheitsanspruch des Islam belegt, etwa damit, daß gut die Hälfte der Jugendlichen den Islam als die „höchste existierende Religion“ betrachten. Das tun, wie die Forscher einräumen, sicherlich auch Anhänger anderer Religionen – aber da ihrer Meinung nach beim Islam vor allem auch in Zukunft eine „enge Verkoppelung mit der politischen Dimension“ zu befürchten sei, sei das hier etwas anderes.

Noch problematischer sind die Fragen nach der „religiös fundierten Gewaltbereitschaft“, wie die, ob die Jugendlichen der Aussage zustimmen: „Wenn es der islamischen Gemeinschaft dient, bin ich bereit, mich mit körperlicher Gewalt gegen Ungläubige durchzusetzen.“ Was bedeutet nun Gewalt in dem Zusammenhang? Dankenswerterweise sind im Anhang inhaltliche Kommentare der Jugendlichen abgedruckt, die zeigen, daß sie dabei z.B. an den Rassismus in Deutschland und an den Krieg in Bosnien und Afghanistan denken und an das Recht auf Selbstverteidigung. Daraus nun zu schließen, es gebe hier ein „beträchtliches religiös fundiertes Gewaltpotential“, gestützt auf die schmale Datenbasis von insgesamt vier Fragen – ist skandalös! Hätten diese Forscher auch bei Deutschen, die die Bundeswehr befürworten, vor einer „ethnisch fundierten Gewaltbereitschaft“ gewarnt?

Schließlich zur politischen Orientierung: Hier erfahren wir, daß ein erheblicher Prozentsatz zu radikalen Gruppierungen neigt, was sich darin zeige, daß mehr als ein Drittel der Befragten sich gut oder teilweise von der (islamistischen) Milli Görüș und von den (nationalistischen) Grauen Wölfen vertreten fühlen. Dieselben Jugendlichen fühlen sich aber auch, wie man im Anhang herausfinden kann, zu 45 Prozent von der SPD, zu 24 Prozent von der CDU und zu 34 Prozent von den Grünen und zu einem geringeren Prozentsatz noch von anderen Gruppen vertreten. Das wird im Text weder dargestellt noch diskutiert. Es wird also nur ein Ausschnitt herausgegriffen, anstatt das ganze Spektrum darzustellen. Wichtig wäre auch gewesen, zu fragen, welche Aspekte von Milli Görüș die Jugendlichen überzeugen, denn an den Mehrfachnennungen zeigt sich, daß für die meisten deren Ziele mit denen deutscher Parteien durchaus kompatibel sind.

Die absolut unzulängliche Datenbasis für so weitreichende Aussagen ist den Forschern wohl auch bewußt, wenn sie immer wieder feststellen, daß es sich um ein „unterschwellig gefährliches Gewaltpotential“ handele, „das ausgebrütet werde“, und von „Unterströmungen“, die ausbrechen könnten, und Konflikten, die „schwelen“, falls die Einflüsse radikaler Parteien zunehmend nach Deutschland „schwappen“. Eindeutige Ergebnisse hingegen werden erzielt bei Fragen zum Rassismus der deutschen Gesellschaft. So fühlen sich drei Viertel der Befragten von der Mehrheitsgesellschaft bedroht und glauben, sich selbst schützen zu müssen. Sie haben auch das Gefühl, daß sie, was immer sie tun, nie dazugehören werden.

Die Probleme werden einfach ethnisiert

Ziel der Untersuchung war es, die Situation der türkischen Jugendlichen in Deutschland aufzuzeigen. Gezeigt wurde vor allem ein Bild der Radikalisierung, das sich weder aus der vorliegenden Datenlage erschließen läßt noch für die türkischen Jugendlichen typisch ist. Dabei werden die Probleme einfach ethnisiert, indem sie in erster Linie der türkischen Herkunft, dem Leben „zwischen den Kulturen“ oder islamisch-türkischen Einflüssen angelastet werden. Zwar wird die deutsche Gesellschaft mit der Forderung nach „Integration“ vor allem bezüglich Arbeits- und Ausbildungsplätzen auch in die Verantwortung genommen, aber indem die Grenzen der arbeitsmarktpolitischen Integration aufgezeigt werden und eine Antirassismus- und Antidiskriminierungspolitik erst gar nicht diskutiert wird – bleibt schließlich vor allem der Aufruf zu einer wehrhaften Demokratie. Und die taz stimmt ein, indem sie letzte Woche dazu titelte: „Risiko Toleranz“.