Roter Radler im roten Peugeot

Die Friedensfahrt wird 50: Gustav Adolf „Täve“ Schur trat für den Sozialismus und den Frieden in die Pedalen. Heute muß das einstige Sportidol aus dem Osten Kompromisse mit dem Westen machen  ■ Von Jens Rübsam

Die CD fährt ins Gehäuse, und es wird Mai 1955. Aus den Boxen schreit eine Stimme: „Der Held kommt an.“ Es knackt. Es rauscht. Die Stimme des jungen Reporters vibriert: „Wir haben gewonnen.“ Es knackt noch einmal. Es rauscht noch immer. Dann stärker: „Jetzt sind wir glücklich. Jetzt sind wir so glücklich.“ Dann ist nur noch „Täve, Täve“ zu hören. Aus den Boxen und von den Genossen auf den Holzbänken davor.

Die CD ist aus, und es ist Mai 1997. Es ist kurz vor Mittag. Es ist ein schöner Tag. Die Berliner PDS feiert ein Frühlingsfest. Die Frauen der Bezirksgruppe Wedding schneiden Blechkuchen auf. Im Asia-Grill drehen sich die Broiler. Die Genossen stehen noch immer vor ihren Holzbänken und jubeln „Täve, Täve“.

Gustav Adolf „Täve“ Schur sitzt auf der Bühne. Er hat bescheiden gelächelt, als sein erster Friedensfahrt-Sieg von Warschau 1955 auf der CD gefeiert wurde. Er hat in die Gesichter seiner Genossen geblickt und ihnen zugenickt. Gell, so war's...

Als „der rote Radler“ aus dem anhaltinischen Heyrothsberge war Täve im Westen verschrieen. Vorausgesetzt, man kannte ihn. Als „staatlich gelenkte Sozialismus- Rundfahrt“ wurde die Friedensfahrt bezeichnet. Vorausgesetzt, man hatte drüben von ihr gehört. Warum also nicht die Wende nutzen, um dem verhaßten Radrennen das Wasser abzugraben, sagten sich die Sportfunktionäre. Vorbehalte gab es viele, Geld gab es nicht mehr, und die Entscheidung war gefallen: Deutschland steht als Ausrichter nicht zur Verfügung (freilich, auch Polen hatte sich zurückgezogen). Nur die Tschechen hielten 1991 an der Fahrt fest. Und so gab es wenigstens eine Miniaturausgabe. Ein Jahr später die totale Blamage: Berlin, gerade im Olympia-Bewerbungstaumel, hatte sich als Startort angedient. Wohl eher, um sich den Anschein einer Sportstadt geben zu können. Wohl weniger, um wirklich an eine Tradition anzuknüpfen. Die Chaosfahrt, lieblos von der Olympia GmbH vorbereitet, endete, wie sie enden mußte: Die Fahrer kamen aus verschiedenen Richtungen ins Ziel. Erst 1995 war wieder mit Oberwiesenthal ein deutscher Ort in die Streckenführung einbezogen worden. 1996 waren es schon drei: Cottbus, Dessau und Leipzig. Und in diesem Jahr sind es sechs: Potsdam, Magdeburg, Wernigerode, Freyburg, Dresden und Bautzen. Gestern fiel in Potsdam der Startschuß zur Jubliäumsfahrt. Der 50.

Die Frauen der Weddinger PDS-Bezirksgruppe hören auf, den Blechkuchen aufzuschneiden. Sie schauen hinüber zur Bühne, wo Täve anfängt, mit kräftiger Stimme zu erzählen. Von seiner ersten Friedensfahrt 1952. Es ist die fünfte in der noch jungen Friedensfahrt-Geschichte und die dritte, an der Radsportler aus der Deutschen Demokratischen Republik teilnehmen. „Wir waren in Warschau in einem Hotel untergebracht. Vor dem Ehrenstart hockte ich auf meinem Lenker. Ringsherum war alles zerschlagen und zerbombt. Mensch, wer hat das bloß alles angerichtet, habe ich gedacht. Am Straßenrand sah ich ein altes, verarmtes Mütterchen stehen. Die hat mich angeschaut, so richtig durchbohrend angeschaut. Ich habe mich gefragt: Was wird die jetzt denken von mir, von einem Deutschen? Hat sie vielleicht durch die Deutschen alles, ihr ganzes Hab und Gut verloren? Der Blick hat sich in mir festgefressen. Ich habe gespürt, sie sieht auch in mir einen Verantwortlichen für die Trümmer ringsherum. Und ich habe mir gesagt: Täve, du mußt beweisen, daß du ein friedfertiges Deutschland verkörperst.“

Die Genossen auf den Holzbänken applaudieren. Die Frauen stehen noch immer fasziniert vor ihren Kuchenblechen. Eine Genossin sagt: „Täve ist eben aus Idealismus Rad gefahren.“

Täve redet weiter. Von seinen Weltmeistertiteln der Straßenradamateure 1958 und 1959. Von seinem zweiten Friedensfahrt-Sieg 1959, wieder eingefahren in Warschau. Er sagt, die WM-Titel seien zwar seine größten sportlichen Erfolge, aber die Friedensfahrt-Siege seien ihm wichtiger gewesen. Schon wegen der Idee: mit einer Radtour eine Friedensbotschaft durch die Länder zu fahren. So hatten es sich die Gründungsväter, der Pole Zygmunt Weiss und der Tscheche Karel Tocl, 1948 gewünscht. Das Erbe des Krieges für die Menschen erträglicher zu machen, irgendwie. Warum nicht mit einer bunten Radtour, ähnlich der Tour de France?

Ja, warum eigentlich nicht?

Täve wird ärgerlich. Er rückt sich zurecht auf seinem Bühnen- Stuhl, zieht die Beine an, das rechte scheint noch immer ein wenig zu schmerzen. Eine dumme Geschichte. Mitte Februar ist er mit dem Rad gestürzt. Er war unterwegs auf Mallorca, als Chef einer Touristengruppe. Er wollte sich nur mal umgucken, ob noch alle da sind. Na ja, da war es auch schon passiert. „Die Straße war seifig“, sagt Täve, und eigentlich will er sagen: Er ist auch nicht mehr der Jüngste. Ende Februar ist er 66 geworden. Ein schönes Geburtstagsgeschenk, dieser Oberschenkelhalsbruch. Noch auf Mallorca bekam er eine Platte ins Bein und ein paar Krücken in die Hände gedrückt. Jetzt muß er ein bißchen vorsichtiger sein.

Täve hat sich heißgeredet und wettert hinein in den warmen Frühlingstag. „Eine hervorragende Fahrt ist die Friedensfahrt gewesen.“ Nur Amateure, keine Profis. Kein Kommerz, kein Geld. Gar nichts? „Einmal gab es eine 350er Jawa. Die wurde für 3.600 Mark verkauft, und das Geld wurde durch sechs geteilt. Wir waren schließlich eine Mannschaft!“ Weiter nichts? „Na ja, für die beiden Einzelsiege habe ich eine staatliche Prämie von je 10.000 Mark bekommen.“ Weil doch Wissenschaftler auch immer eine Prämie bekommen hätten. Aber das mit den 10.000 Mark habe niemand wissen dürfen.

Neid sollte auf „unseren Täve“ nicht aufkommen. Täve war Idol. War Staatsmacht. Weil Sport in der DDR eine Staatsmacht war. „Sein Aufstieg ist der Aufstieg unseres Staates, an einem tüchtigen, fleißigen Menschen demonstriert, an einem Menschen, der den Millionen bewies, was Wille und Fleiß für eine gute Sache vermögen“, schrieb man über ihn. Der Name Schur war Didaktik und stand für die DDR. Und die DDR spielte die Patentante des Täve Schur, rief ihn zum Studium. „Ich selbst hätte mir das nie zugetraut“, sagt er heute. Er wurde auf Reisen geschickt – immer in der Pflicht, die für ihn ausgegebenen Devisen mit sportlichen Leistungen zurückzahlen zu müssen. Diese Pflicht hat er gern erfüllt. „Alles, was ich geworden bin, bin ich durch die DDR und ihre Bürger geworden.“

Einmal, da hat Täve Schur auch das gesagt: „Die DDR ist mein größtes Erfolgserlebnis.“ Und das sagt er noch heute. Warum? „Weil man drüben doch nur versucht hat, uns auszubooten.“ Wie 1954, bei einem WM-Rennen in Solingen. Ein Pokal für den „Besten Deutschen“ war zu vergeben. Und er, der Täve aus der DDR, ist der beste Deutsche gewesen. „Doch die haben gemeint, ich sei kein Deutscher. Da war ich richtig verbiestert. Bis der Pokal endlich rausgerückt wurde, das war vielleicht ein Theater.“ Zehn Jahre später, 1964, wieder so ein unfaires Ding. Die BRD habe darauf gedrängt, die WM in einem Nato-Land auszutragen. „Wir konnten natürlich nicht teilnehmen.“ Daß man das auch anders sehen kann? Er will es wahrscheinlich gar nicht.

Er muß es auch nicht. Seine Genossen, wie die, die da unten auf den Holzbänken beim Frühlingsfest sitzen, denken sowieso wie er. Wenn er ihnen zuruft, „na ja, bei meinen vier Kindern sieht auch nicht alles so stabil aus“, dann ahnen sie, es muß an der heutigen Zeit liegen. Jan, sein Ältester, hat gerade ein Hotel in Schierke/Harz gebaut. „Ein Wahnsinn.“ Er mußte einen Kredit aufnehmen. Jetzt bräuchte er noch einen. Bekommt aber keinen mehr. „Irgendwie steckt er ein bißchen in der Klemme.“ Und sein anderer, der Gus-Erik, hat Sorgen mit seinem Fahrradgeschäft in der Magdeburger Innenstadt. 7.000 Mark Miete muß er im Monat zahlen. „Das muß man erst mal reinbekommen.“ Weil das nicht zu schaffen ist, verkleinert er jetzt den Laden.

Und er selbst? Täve Schur sagt das, was alle über ihn sagen. Er sei bescheiden. Ein einfacher Mensch. 1.760 Mark kriegt er Rente. „Damit würde ich auskommen.“ Muß er aber nicht. Er ist noch gefragt. Freilich nur im Osten. Auf Festen der PDS. Als prominentes Zugpferd bei Sportveranstaltungen. Er zeigt seinen Terminkalender, fährt mit dem Zeigefinger durch den Juni. Fast alle Wochenenden sind dicht. Am 8. Startschuß für ein Radrennen in Bad Lauterberg. Am 24. Eröffnung des Köthener Sportlerballs. Am 25. die Buga- Fahrt in Magdeburg. Am 28. eine Veranstaltung in Eilenburg. Am 31. ein Wandertag der Senioren, irgendwo. Nur am 14./15. glotzt ein weißer Fleck aus dem Buch. Aber auch da liegt schon eine Anfrage vor. „Irgendwann müssen wir ja mal das Dach decken“, sagt Täve.

Und jetzt muß er erst einmal die Jubiläumsfahrt über die Runden bringen. Schließlich ist er der Präsident des Friedensfahrt-Vereins.

110 Radler aus zehn Amateur- und neun Profimannschaften hat Täve gestern auf die Strecke geschickt. 1.562 Kilometer, aufgeteilt in zehn Etappen. Zielort ist am 18. Mai Brnô in Tschechien. Der Gesamtetat liegt bei 1,5 Millionen, die Preisgelder bei 135.000 Mark. Profis? Werbung auf den Trikots? „Man muß Kompromisse machen“, sagt Täve. Heute müsse man akzeptieren, daß Amateure und Profis zusammenfahren. Man müsse auch mit der Werbung leben. Nicht mit Coca-Cola und nicht mit Zigaretten, „das würde ich nie zulassen“. Aber Firmen aus dem Osten. Eine Brauerei aus dem Harz, eine Molkerei aus Magdeburg, eine Sektkelterei aus Sachsen – das ist realpolitisch korrekt.

Es ist früher Nachmittag. Die Kuchenbleche sind leer. Broiler kreisen am Spieß. Gregor Gysi war auch schon da. Das Berliner PDS- Frühlingsfest lüstelt so vor sich hin. Täve schüttelt noch viele Hände. Fährt nach Hause, nach Sachsen- Anhalt. Mit einem roten Auto, spendiert von Peugeot.