Die Suche nach einer kulturellen Identität

In Hongkong treffen Europa und Asien aufeinander. Die Stadt lebt von ihrer Vielfalt. Ein Häufchen Unverzagter spricht dennoch von einer eigenständigen Kultur – fast schon eine Provokation  ■ Von Robert Kaltenbrunner und Beate Rusch

Auf ein Bier treffen sich HongkongerInnen, ChinesInnen und die als „Expats“ bezeichneten westlichen Ausländer gern im Bezirk Central, genauer in Lam Kwai Fong. Biertrinker können zwischen zig europäischen Biersorten wählen, während andere sich freuen, vor oder nach dem Discobesuch noch einen Platz bei Grace Ma in der alternativ angehauchten June Fourth Bar zu ergattern.

Seit 1978 hier der erste Club eröffnete, ist die Zahl der Kneipen und In-Restaurants unüberschaubar geworden. Indes, schon Jahre zuvor hatten Intellektuelle und Künstler jeglicher Couleur den Distrikt für sich entdeckt. Die Mieten waren erschwinglich, die Nähe zum Zentrum war bestechend. Man traf sich in kleinen, billigen indischen und vietnamesischen Restaurants, die sich noch heute in oberen Stockwerken verstecken. Und unweit liegen, in alten Kolonialgebäuden untergebracht, wichtige „Ankerplätze der Alternativkultur“: so der Fringe Club mit seinem Theater und seinen Ausstellungsräumen.

Ausländer sehen in Lam Kwai Fong so etwas wie den Montmartre von Hongkong. Doch für die einheimischen Geomanten war es gerade diese Künstlerkonzentration, die ein so grelles wie gräßliches Schlaglicht auf den Distrikt werfen sollte. In der Silvesternacht 1992/93 brach inmitten des Trubels in einer Disco ein Feuer aus. In den engen Straßen kam es zu einer Panik, Menschen wurden in der Menge zu Boden gestoßen, und die Feuerwehr kam nicht zum Zuge. Am Ende der Nacht waren zwanzig überwiegend junge Tote zu beklagen. In der Folge wurde nicht nur über Fluchtwege und Alkoholverbote laut nachgedacht, auch die Künstler, die sich vor etwa zwanzig Jahren der Gegend bemächtigt hatten, gerieten in Verruf. Wenige Wochen zuvor hatte das „Hongkong Institute for Professional Photographers“ eine Ausstellung in dem Distrikt organisiert und wurde nun gezwungen, die Fotos, die in den Straßen hingen, zu entfernen.

Warum? In Kolumnen und geomantischen Fachzeitschriften waren Stimmen laut geworden, die in einigen der Bilder böse Omen für das Unglück sahen. Besonders Oskar Lam, der eine Nußschale mit 30 eingravierten buddhistischen Mönchsfiguren auf hellblauen Blütenblättern ausgestellt hatte, erschien als Prophet der Katastrophe. Plötzlich sah man in den Mönchsfiguren Leichen. Auch auf anderen Fotos, die nun eilig entfernt wurden, erkannte man vermeintlich Grabsteine und Totenblumen. Die Geomantie-Anhänger meinten, damit die Gründe für das Unglück ausgemacht zu haben: Die in dem Stadtviertel grassierende künstlerische Individualität sei schuld daran.

Dieses Nebeneinander unterschiedlicher Wertvorstellungen ist typisch für Hongkong. Gerade diese Pluralität aber hält Huang Yumin, Herausgeber der unabhängigen kritischen Tageszeitung Diangou Daily („Verrückter Hund“), für einen besonderen Wert: „In Hongkong treffen China und der Westen aufeinander. Wir können unabhängig denken, im Ausland studieren und haben Zugriff auf Bücher aus China, Taiwan und aus dem Westen. Hongkongs Besonderheit ist, daß es zur Vielfalt tendiert. Deshalb haben die Menschen auch so viele unterschiedliche kulturelle Wertvorstellungen entwickelt.“

Unter den Intellektuellen findet sich neben Traditionalisten, die sich der klassischen (nord)chinesischen Kultur verpflichtet fühlen, und Flüchtlingen, die mit ihren westlichen Vorstellungen in der VR China als Dissidenten galten, auch ein Häufchen Unverzagter, die nach einer eigenständigen Hongkonger Kultur suchen. Hongkong als eigenständige kulturelle Einheit zu betrachten ist ein vergleichsweise neuer Ansatz, der nicht zuletzt durch die trüben Aussichten auf die Übergabe an China an Bedeutung und Popularität gewann. Angesichts eines erstarkten chinesischen Nationalismus, der auch in der Noch-Kolonie mehr Menschen auf die Straßen treibt als ein Sit-in für Demokratie und Pressefreiheit, erscheint es fast als Provokation, von einer eigenständigen Hongkonger Kultur zu sprechen. Es bedarf heute einer guten Portion Mutes, auszusprechen, was für manche verdächtig nach „zwei Chinas“ klingt.

„Wenn einer sich vornimmt, über und für diese Stadt zu schreiben, sollte er wissen, daß man hier nicht an die alte sozialistische Phrase von den ,Architekten der Seele‘ glaubt, daß man künstlerischen Entwicklungen hier nur wenig Platz einräumt.“ Anliegen des Schriftstellers Leung Pingkwan ist es, Kunst und Intellekt stärker in der Hongkonger Gesellschaft zu verankern. Ein aussichtsloses Unterfangen? „Verglichen mit anderen chinesischen Gemeinden hat Hongkong wenig unter der politischen Einflußnahme auf die Kunst gelitten“, meint Leung. „Man überlebt oder stirbt für sich allein. Literatur wird veröffentlicht in unauffälligen Beilagen oder kurzlebigen, selbstfinanzierten Literaturzeitschriften. Staatliche Unterstützung gibt es nicht, die Bevölkerung verhält sich Literatur gegenüber indifferent, für die Wissenschaftler ist sie kein salonfähiges Thema, und doch ist die Hongkonger Literatur lebendig.“

Was Leung in bezug auf die schreibende Zunft zu bedenken gibt, gilt wohl gleichermaßen für die übrigen Bereiche der Kultur. Die Kulturschaffenden Hongkongs führen eine Nischenexistenz in einer Stadt, die den Vergleich mit glitzernden Hochhausfassaden nur schwer aushält. „Von Peking oder auch London aus gesehen ist Hongkong bloß ein blasser Punkt am Rande, ein Rauchzeichen im wütenden Sandsturm, ein Gerücht vom Grenzposten, ein unklares Detail im Unterholz der Geschichte“, so Leung Pingkwan in einem seiner Gedichte.

Das Bemühen, sich einen eigenen kulturellen Raum zu schaffen, wird Hongkong im allgemeinen abgesprochen. Die Stadt sei eine „kulturelle Wüste“, „ein einziges Shopping-Center“. Schließlich gibt es weder prächtige Paläste und imposante Ruinen noch Museen und nur wenige Galerien von globaler Reputation. Für Mode, Schlager, Rock, aber auch die Sprache gilt Hongkong jedoch inzwischen als kulturelle Referenz. Während man sich lange Zeit in vielen Witzen über die Kantonesen lustig machte, denen das saubere Mandarin nicht so recht gelingen wollte, finden junge Szene-Chinesen in Shanghai es heute schick, Hochchinesisch mit kantonesischem Akzent zu sprechen.

So ist das bisher einzige kulturelle Zentrum im Reich der Mitte, das jahrhundertelang unumstritten Peking war, spätestens Mitte der 80er Jahre vielen kleinen kulturellen und auch wirtschaftlichen Zentren gewichen. Selbst Shopping ist in der Noch-Kolonie nicht bloß banales Privatvergnügen, sondern hat eine quasi öffentliche Funktion. „Die Schaufenster hier sind aber mehr Behältnisse für die Exponate einer internationalen Glitzerwelt, sie dienen noch einem anderen Zweck als der rein kommerziellen Verlockung: Sie erzeugen die Illusion eines ständig verfügbaren, jederzeit für eine gewisse Zeitspanne in Beschlag nehmbaren Raums hinter der so sauber geputzen Scheibe. Es ist die Gegenwelt zu den bedrängten Verhältnissen der Staunenden, der Ort der Ruhe und der Kontemplation.“ Was der Autor und Sinologe Tilman Spengler notierte, gibt einen Hinweis darauf, wie essentiell die Inbesitznahme öffentlichen Raums in Hongkong ist. Gerade weil er kaum vorhanden ist, muß er geschaffen werden. Ob künstlich oder künstlerisch, ob politisch oder literarisch, ist dann schon fast zweitrangig. Aber eben nur fast.

Robert Kaltenbrunner ist Architekt und Stadtplaner in Berlin und beschäftigt sich mit der Entwicklung Chinas und Südostasiens. Beate Rusch arbeitet als Sinologin in Berlin über China und Hongkong.