Weder Ambiente noch Gegenstand

■ Vom Blitz belichtet, bei Donner eingesammelt: Im Schloß Arolsen zeigt Floris Neusüss „Nachtstücke“ – gespenstische oder bodenständige Fotogramme, die von moderner Gestaltung nichts wissen wollen

Ein gedrungenes Schloß in einer Wegkurve im Hessischen. Im Hof wird ein Festzelt abgebaut, an der Kasse stehen ältere bürgerliche Damen, die es gut meinen mit dem Besucher. Und im ersten Stock, den man über eine ungemein karge Steintreppe erreicht, ist eine der lebensechten Skulpturen von Duane Hanson plaziert: eine Grauhaarige, lesend. Das ist eine Überraschung. Und dann, das Herz bleibt mir fast stehen, grüßt sie.

Dieses anheimelnde Ambiente, dreißig Kilometer von Kassel, ist die zweite Station der „Nachtstücke“ von Floris Neusüss. Man findet sie in einem holzgetäfeltem Raum; schwarzweiße fotografische Bilder mit klaren Verläufen, verwirrenden Versatzstücken und kaum zu erahnendem Volumen: ein technisch begriffenes Stück Natur. Neusüss erzeugt die Bilder, indem er Fotopapiere im Garten auslegt. Belichtet werden sie vom Blitz und eingesammelt bei Donner. Das Fotogramm ist die älteste Technik des Fotonegativs: Das Objekt erscheint als Schattenriß oder durchleuchtet (oder beides) auf dem Silberpapier.

Im Schloß Arolsen zeigt Floris Neusüss nicht nur die „Nachtstücke“, sondern auch ältere Beispiele seiner Lichtkunst, begonnen mit dem gespenstisch gestreckten Bild einer Frau (1965), deren Brüste rechts und links des Körpers erscheinen; die Symmetrie von Insekten. Angelehnt an die Körperstempel von Yves Klein war das Körperfotogramm damals – offensichtlich – eine Art der Selbsterfahrung, was vor allem ein amerikanischer Bericht über ein späteres Fotosymposium in Arles, Südfrankreich, zeigt. Da war Neusüss der Guru einer fotogrammatischen Orgie, die mit dem Verlust des papierenen Doppels in den Wellen des Mittelmeers zu Ende ging, unter dem Staunen der Einheimischen.

Ein spätes Echo der jahrelangen Experimente sind die ULOs (Unidentifizierte Liegende Objekte), Figuren von Handgröße, die als Schattenriß auf dem Papier erscheinen, weiß auf schwarz, schwarz auf weiß: das Irrlichternde der Fotogramme ist – bis auf wenige, durchaus magische Varianten – weitgehend zurückgenommen. Die Fastfiguren, nie ganz symmetrisch, sind irgend etwas zwischen Tänzer und Raupe, Spalt und Blatt. Sie stehen und sie fliegen nicht. Die Schattenfiguren leben von ihrer extrem reduzierten Menschenähnlichkeit.

Floris Neusüss, Hochschullehrer in Kassel, ist ein experimentierender Fotograf mit einem Hang zu abtrünniger Poesie. So lud er im November 1983 in die GhK zu „Totengespräch und Göttertafel“ ein; Ulli Raulff sprach über „Tardes Arche“ und Dietmar Kamper über „Gott-Essen“: ein Gruftitreffen mit großem Gelage, alles für die Theorie des falschen Lebens in Flaschen. Ein schmales Heft, „Medium Fotografie“, erschien zwischen 1978 und 1994, mit einer „Seh-Schule“ von Kazuo Katase, der „Wache“ von Jochen Gerz und dem Themenheft „Food, Sex and TV“ von Robert Heinicken, ein seltenes Projekt in Farbe.

Vor zwanzig Jahren befaßte sich Neusüss mit methodischen Fragen fotografischer Darstellung. Davon zeugt ein „Maßstabbild“, das in zwölf Bildrahmen zeigt, wie eine Frau – zuerst ein Punkt am Horizont – sich nähert, bis man schließlich die barocken Absonderlichkeiten ihres Bauchnabels vor sich sieht. Das alles entnimmt man dem in wunderbar leichten, langen Vitrinen ausgelegten Material, das die Lehre von Neusüss in einer Retrospektive darstellt: ein umtriebiger Lehrer, der vor ein paar Jahren das Standardwerk zum „Fotogramm im 20. Jahrhundert“ veröffentlicht hat (DuMont). Unbegreiflich allerdings, daß das ausgestellte Exemplar noch in Plastikfolie eingeschweißt ist.

Die sehr unterschiedlichen Räume des Schlosses hat Neusüss zu nutzen gewußt. In einem hellen Raum mit extrem verquollenen Glasgravuren („Antigone“) zeigt er die bodenständigen Ganzkörperfotogramme; in einem langen Gang, jeweils zwischen den Fenstern, eine Gruppe dramatisch beleuchteter Pflanzenstudien; und in einer Kammer unter dem Dach, die einem „modernen Zimmer“ am nächsten kommt, eine dichte Gruppe von 24 ULOs. Sie haben sich dort eingerichtet, als wohnten sie dort seit der Goethezeit.

Mit den „Nachtstücken“ verläßt Floris Neusüss die strengen Regularien seiner fotografischen Pädagogik. Er praktiziert eine Art Selbstaufnahme der Natur, die von moderner Gestaltung so gar nichts wissen will: Gitter, Flächen, Lichter, dunkle Höhlen und filigrane Fragmente sind hingeworfen in kühnen Konstellationen, weder Ambiente noch Ort oder Gegenstand. Sie passen ganz gut in das hessische Schloß, wo es mit rechten Dingen, wie gesagt, ohnehin nicht zugeht. Ulf Erdmann Ziegler

Floris Neusüss: „Nachtstücke, Fotogramme 1957–1997“. Schloß Arolsen (bei Kassel), bis 13.7.