Touristen sind klasse!

Ein Buch über Sinn und Lust des Reisens: Über die rituelle Neuschaffung der Welt beim Campen und andere Reisemotive  ■ Von C. Burghoff und E. Kresta

Reisen ist schön. Wer hätte es je bezweifelt. Und Reisen ist pure Lust, zeigt der Autor Christoph Hennig in seinem Buch „Reiselust“. Quer durch die Literatur zum und über das Reisen rehabilitiert er den so oft denunzierten Touristen. Er folgt ihm auf seinen Traumpfaden und stellt ein für allemal klar: Es ist keine Schande, Tourist zu sein. Im Gegenteil. Ob beim Sightseeing, im künstlichen Ferienparadies oder beim Strandurlaub, im Tourismus schlummert Tieferes, nämlich der Wunsch nach Entgrenzung und Transzendenz. Und der verwirklicht sich, je nach sozialer Zugehörigkeit, in der Kaffeefahrt oder der Trekkingtour. Tourismus ist Spiel, Ritual und Fest, schreibt Hennig. Und wer würde nicht zustimmend nicken, daß die Moderne mit kollektiven Formen von Spiel und Fest geizt. Auch wenn kleine, individualistische Befriedungsmuster alltäglich zu haben sind: der Rausch, der Wechsel der Identität, der Wechsel von Beziehungen. All dies sucht und findet der Tourist nach Hennig heute in geballter Form im modernen Tourismus. Selbstbezogen zieht er durch die Welt, denn es gehe ihm nur begrenzt um die Erfahrung des Fremden. Vielmehr, so Hennig, suche der Tourist „die sinnliche Erfahrung imaginärer Welt, die Realtität der Fiktion“. Wo er diese auslebt, ob im karibischen Paradies oder in künstlich gestalteten Welten, ist letztendlich egal. Nur der Erfahrungsraum muß zur Verfügung stehen. In den künstlichen Welten allerdings, schränkt der Autor ein, werde die eigene Phantasie zu sehr gegängelt.

Diese „selektive, fiktionale Wahrnehmung“ sieht Hennig als „strukturellen Bestandteil des Tourismus“. „Die Bewegung, die Reisen grundlegend charakterisiert, ist universell verbreitet und in allen Kulturen nachweisbar: der Impuls, die Ordnungsstruktur des Alltags zu verlassen und in andere Wirklichkeiten einzutreten.“ Ob in der bäuerlichen Gesellschaft dazu kräftig gefeiert und geschlemmt wurde oder im mittelalterlichen Karneval alle Ordnungsprinzipien auf den Kopf gestellt wurden, der gleiche Impuls kann sich heute nach Hennig massenhaft im Tourismus austoben.

Wer möchte den Reisenden dieses subjektive Glücksgefühl, diese Entgrenzung in den schönsten Wochen des Jahres verwehren. Niemand. Doch Christoph Hennig wittert in allen tourismuskritischen Ansätzen das schmalmündige Miesmachen dieses von ihm als grundlegend definierten menschlichen Impulses. Enzensberger, der Altmeister der Tourismuskritik, sah dieses in jungen Jahren dialektisch. Er deutete „die Flut des Tourismus als eine einzigartige Fluchtbewegung aus der Wirklichkeit, mit der unsere Gesellschaft uns umstellt“. Und stellte fest, doch „die Befreiung aus der industriellen Warenwelt hat sich selber als Industrie etabliert, die Reise aus der Warenwelt ist ihrerseits Ware geworden“. Hatte er wie Hennig das Aufblitzen eines Befreiungsaktes im Auge, sah er andrerseits auch dessen Vergeblichkeit durch Normierung, Montage und Serienanfertigung. Oder wer findet in der durchgestylten Großanlage tatsächlich Entgrenzung? Herrscht dort neben gepflegter Langeweile, die durchaus erholungswirksam sein mag, nicht eher Sterilität? Aber man gibt sich ja schon mit wenig zufrieden, vor allem wenn es um so ein Statussymbol wie Reisen geht.

Enzensberger brachte eine gewisses Unbehagen an Lebensumständen auf den Punkt. Vor allem die Abneigung gegenüber den Nullachtfünfzehn-Angeboten der Reiseindustrie. Er hatte die gesellschaftlichen Bedingungen des Tourismus im Auge. Hennig sieht diese nicht. Er reduziert seine Analyse auf die menschlichen Grundbedürfnisse nach Entgrenzung und Erfahrungsspielräumen. Kleine Fluchten in die Welt der Phantasie, wie bei einem guten Film, einem guten Buch, nur „daß dieser Traum in einer sinnlichen Wirklichkeit erfahren wird“.

Reisen bei Hennig, das bringt aber auch die ganze anthrophologische Grundausstattung zum Tanzen. Beispielsweise beim Campen. Dort endeckt er „die rituelle Neuschaffung der Welt“, dann leuchten „sakrale Motive“ auf, und da wird im Badeurlaub „die Symbolik des Wassers mit seiner auflösenden und regenerierenden Kraft“ deutlich. Reisen ist viel und noch vieles mehr. Bei Hennig wird das banalste Abschalten, der kleinste sinnliche Kitzel mit philosophischer Erhabenheit gedeutet. Dafür kein Wort zum Tourismus als Industrie, kein Gedanke daran, daß Reisewünsche geschürt und geformt werden, daß sie als Lifestyle- Bedürfnisse erst geweckt werden. Die Geschichte des Reisens erscheint als langer, in sich logischer und vor allem rationeller Fluß. Jeder Zoll dem Menschen an sich und seinen Bedürfnissen geschuldet.

Bleibt zu sagen, daß all dies sehr schön dargestellt wird. In einem wunderbar belesenen Plauderton. Die Literatursammlung ist imponierend. Eine Fundgrube zum Weiterlesen: Sie läßt die abendländische Kulturgeschichte Revue passieren. Man könnte gerdezu ins Reisebüro laufen und – sagen wir – zehn Tage Dominikanische Republik mit Ringelpiez zum Anfassen buchen. Auch das ist sicherlich irgendwie schön.

Und natürlich sind die ökologischen Folgen des weltweiten Glücklichseins ebenfalls erwähnt. Beim Flugverkehr oder beim Autotourismus wird Hennig unmißverständlich deutlich. Daß Reisen der Umwelt schadet, ist gut nachvollziehbar. Aber auch das wird die Reiseindustrie, so hofft Hennig, schon irgendwie richten.

Das Buch wärmt die Herzen von uns Urlaubern. Es versetzt uns in touristische Aufbruchstimmung wie der Fünfziger-Jahre-Hit von den Capri-Fischern. Alles wird gut.

Christoph Hennig: „Reiselust – Touristen, Tourismus und Urlaubskultur“. Insel Verlag, Frankfurt/M. 1997, 228 S., geb., 36 DM