Pick Pockets
: Lebensgenies, Werktalente

■ Neue Taschenbücher: Biographien über Knut Hamsun, Anais Nin, Oscar Wilde und die Brentanos

1952, vor 45 Jahren also, starb auf seinem Gut Nørholm in Südnorwegen Knut Hamsun. Der 93jährige war weltberühmt, aber er war auch geächtet und isoliert, hatte er sich doch seit den dreißiger Jahren als entschiedener Parteigänger der deutschen Nationalsozialisten gezeigt, der sich selbst noch nach 1945 als uneinsichtig erwies – man machte ihm den Prozeß und verurteilte ihn als Landesverräter. Antidemokratische, zivilisationskritische Tendenzen beherrschten Hamsuns Werke von Anfang an, als kurz vor der Jahrhundertwende sein Stern über der europäischen Literaturszene aufging. Er begeisterte und beeinflußte ebenso zahlreiche wie unterschiedliche Autoren, Thomas Mann etwa, aber auch Henry Miller.

Seine Biographie, die der Skandinavist Walter Baumgartner in der bewährten Reihe der rororo-Monographien jetzt vorlegt, liest sich über weite Strecken selbst wie ein Roman: Vom Landproletarier und Gelegenheitsarbeiter stieg er zum Nobelpreisträger auf. Hamsuns Leben steht aber auch exemplarisch für das Verhältnis von Geist und Macht im 20. Jahrhundert; Hamsuns auch heute noch sehr lesenswerte Werke beweisen allerdings auch nachdrücklich, daß politische Blindheit nicht zwangsläufig zum künstlerischen Bankrott führen muß.

Als künstlerische Bankrotterklärung großen Stils kann man demgegenüber die berühmten, immer noch als „Kultbücher“ durchgereichten Tagebücher der Anais Nin sehen; jedenfalls liegt dieser Schluß nahe, wenn man die ganz ausgezeichnete Biographie der Anais Nin von Noel Riley Fitch liest – von dem etwas marktschreierischen Untertitel „Das erotische Leben der Anais Nin“ sollte man sich nicht abschrecken lassen. Anais Nin, geboren 1903, gestorben 1977, war in den zwanziger und dreißiger Jahren eine der schillerndsten Gestalten der Pariser Literaturboheme, nicht zuletzt durch ihre Dreierbeziehung zu Henry Miller und dessen Frau June berühmt.

Die Tagebücher der Nin galten und gelten vielen immer noch als schonungslose Lebensbeichte, als Manifest eines emanzipierten Frauenlebens. Noel Riley Fitch weist aber detailliert nach, daß diese Tagebücher zum großen Teil aus eitlen Selbstinszenierungen und Mystifizierungen bestehen, geschönt und redigiert sind und mit der Lebenswirklichkeit dieser pathologischen Erotomanin wenig gemein haben. „Wie konnte sie sich“, so die Kernfrage dieser Biographie, „mit sich im Reinen fühlen, da doch ihr wahres Werk, ihre wirklichen Leidenschaften und Liebesgeschichten unterdrückt, verzerrt, glattpoliert wurden? Wie konnte Anais Nin glauben, ihre Integrität als Künstlerin zu wahren, auf die sie sich ständig berief?“ Diese Biographie ist jedenfalls ein spektakulärer Denkmalsturz.

Wer demgegenüber wie Oscar Wilde mit seiner unnachahmlichen Selbstironie und seinem Hang zur Paradoxie verkündete: „Ich habe mein ganzes Genie in mein Leben gesteckt, in meine Werke nur mein Talent“, der ist natürlich dazu bestimmt, eine Lebensgeschichte zu hinterlassen, die ein brillantes Buch wert ist. Der amerikanische Literaturwissenschaftler Richard Ellmann, der auch eine imponierende Biographie über James Joyce verfaßte, hat Wildes berühmt-berüchtigte Inszenierung des eigenen Lebens sehr genau recherchiert und äußerst gut lesbar aufgeschrieben. Die skandalreichste und faszinierendste Lebensgeschichte des viktorianischen Zeitalters wird hier auf fast 900 Seiten ausgebreitet – und nie langweilig. Ich glaube, Oscar Wilde hätte Ellmanns Buch gefallen.

Zum Schluß noch ein Hinweis auf ein Buch, das im eigentlichen Sinn keine Biographie darstellt, sondern als Familiengeschichte gleich mehrere Biographien zusammenfaßt. Klaus Günzels Buch „Die Brentanos“ erzählt von der ursprünglich aus Norditalien stammenden Familie, die zu den ganz großen Sippen der deutschen Kulturgeschichte gehört – Clemens und Bettina sind die berühmtesten unter ihnen. Vier Generationen haben in Literatur und Kunst, aber auch in Politik, Wirtschaft und Bankwesen entscheidenden Einfluß auf die bürgerliche Kultur Deutschlands gehabt. Klaus Modick

Noel Riley Fitch: „Das erotische Leben der Anais Nin“. Piper, München 1997, 26,90 Mark

Richard Ellmann: „Oscar Wilde“. Piper, München 1997, 39,90 Mark

Klaus Günzel: „Die Brentanos“. Insel Taschenbuch, Frankfurt/ Main 1997, 18,80 Mark

Walter Baumgartner: „Knut Hamsun“. rororo-Monographie, Reinbek 1997, 12,90 Mark