Die Rosa Luxemburg des Nichts

Dreißig Jahre danach hat die Kontroverse um Hannah Arendts „Eichmann in Jerusalem“ nur wenig von ihrem Furor verloren – eine Tagung im Einstein-Forum Potsdam gipfelte in einer Haßtirade des Historikers Raul Hilberg  ■ Von Mariam Niroumand

Die Versuchung, aus Prozeßverläufen ganze Sittengemälde, Historiographien oder jedenfalls brauchbare Erzählungen zu entwickeln, liegt nah. Schließlich sieht es so aus, als träte dem einzelnen eine Gesellschaft und dem Moment eine Ewigkeit gegenüber, für die die Gesetze festgezurrt sind. Aber wieviel sagt der Simpson- Prozeß wirklich über das Verhältnis zwischen Schwarzen und Weißen in Amerika, wieviel sagen die Prozesse gegen DDR-Offizielle über die Wiedervereinigung?

An der Kontroverse um Hannah Arendts Prozeßbericht „Eichmann in Jerusalem“ wird deutlich, daß alle Begriffe, um die es damals ging – Mord, Intention, Verantwortung, Volk, Recht und natürlich das Böse –, unscharf geworden waren, und das nicht nur, weil die Interessen der Beteiligten so divergierten, sondern weil man es mit einem Ereignis in der Menschheitsgeschichte zu tun hatte, dessen Schluß eben nicht zu erzählen ist.

Die Tagung im Einstein-Forum vom vergangenen Wochenende steuerte ohne viel Umschweife auf die wichtigsten und schmerzhaftesten Vorwürfe zu, die Arendts 1963 als Buch erschienenen Essays gemacht wurden. Als regelrechten „Bürgerkrieg“, als „Exkommunizierung“ bezeichnete der israelische Publizist Amos Elon vor allem die Kontroverse unter jüdisch- amerikanischen Intellektuellen, die sehr viel heftiger noch verlief als in Israel, wo der Text lange Zeit überhaupt nur verstümmelt zu haben war. Als „Rosa Luxemburg des Nichts“, wurde sie beschimpft, als „self-hating Jewess“, als „arrogante Deutsch-Jüdin“, der es an ahabat Israel, an Liebe zum jüdischen Volk fehle (Gerschom Scholem).

Die Vorwürfe – sie habe Eichmann vor allem durch ihre inzwischen zum Standard geronnene Formulierung von der „Banalität des Bösen“ verharmlost, habe die Judenräte bezichtigt, den Untergang ihres eigenen Volkes vorangetrieben zu haben, und habe schließlich dem israelischen Staat vorgeworfen, einen Schauprozeß zur Feier des Zionismus geführt zu haben – wurden von den Referenten vor verschiedenen historisch- kulturellen Folien vorbeigetragen.

So führte der Historiker Anson Rabinbach in einer brillanten Mikrostudie an der Reaktion der New Yorker Intelligentsia vor, daß die Heftigkeit der Debatte mit dem prekären Stand der jüdischen Assimilation in Amerika zusammenhing. Autoren wie Irving Howe, Lionel Trilling, Daniel Bell oder Norman Podhoretz hatten sich in den Jahrzehnten davor weder mit dem Holocaust noch überhaupt explizit mit jüdischer Identität auseinandergesetzt. Auch die Überlebenden, die nach dem Krieg in die Vorstädte gezogen waren, hatten ihre Erfahrungen wie ein peinliches Familiengeheimnis geschützt, und ihre Nachbarn hatten, wohl aus Angst und Taktgefühl, auch nicht weiter gefragt.

Erst in den sechziger Jahren, als Ethnizität überhaupt ein legitimes Thema wurde, wagte sich ein zarter Keim des jüdischen Partikularismus an die Oberfläche. Zu ihm gehörten, wie Rabinbach darlegte, vor allem drei Dinge: Bewahrung der Erinnerung an den Holocaust, Respekt vor den Überlebenden und die Unterstützung von Israel (wiewohl es Grund gibt anzunehmen, daß letzteres erst nach 1967 eine Rolle spielte). Gegen alle drei war „Eichmann in Jerusalem“ ein Affront – genauso übrigens wie Philip Roths Roman „Portnoys Complaint“, der fast gleichzeitig erschien. Jedenfalls war Arendt in diesem Moment des vorsichtigen Coming-out der „Aufsteiger“ auch und gerade mit ihrem Universalismus eine Nestbeschmutzerin. Rabinbachs Kollege Gabriel Motzkin von der Hebrew University in Jerusalem demonstrierte in dem vielleicht brillantesten Referat der Tagung, wie es eben dieser Universalismus Arendts war, der sie zu manchen der Urteile verleitet hatte, die man ihr so bitter vorhielt.

Arendt nämlich hatte sich in den Zwischenkriegsjahren intensiv an den Diskussionen über eine portable identity für das jüdische Volk beteiligt, das weder durch Territorium noch durch Sprache, noch durch Geschichte aneinander gebunden war. Danach hätten die Juden als staatenloses Volk Mitglied der Liga der Nationen werden können. So wie Arendts Denken um die Lage des Paria kreiste, beschäftigte es sich auch mit dem Schicksal derjenigen, die nicht durch nationale Zugehörigkeit geschützt sind – für sie potentiell jedermann.

„Sie sprach als staatenloser Flüchtling, nicht als Überlebende“, sagte Motzkin, um zu erklären, warum in ihrem Buch zwar kapitelweise von Deportation, aber kaum von Vernichtung die Rede ist. Deshalb auch habe Arendt so vehement dafür plädiert, Eichmann vor einen internationalen Gerichtshof zu stellen, der nicht das Verbrechen gegen die Juden, sondern im Völkermord an den Juden ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhandeln würde. Die „Banalität“ Eichmanns sei nichts als ein Versuch, ihn zu einem normalen, also schwachen Menschen zu machen, der des Schutzes eines supranationalen, quasi „desinteressierten“ Gerichts bedürfe – „sie sah sich in derselben Lage wie Eichmann, eben als staatenlos und ungeschützt“.

Die Goldhagen-Perspektive aus dem kleinen polnischen Dorf, in dem sich auch der „Einfallsreichtum“ der Täter, ihr Engagement beobachten ließ, stand mehrmals gegen Arendts Einschätzung von Eichmann als kleinem, unbedeutendem Amtsmann. „Das Bild vom Rädchen im Getriebe“, so der Berliner Historiker Götz Aly, „mit nur wenig Eigeninitiative führt in die Irre. Er hat eine Behörde mit 50 Leuten gut geführt – was ist daran banal?“ Die Aufwärtsmobilität, die plötzlichen Riesenaufgaben für Kindergärtnerinnen, Polizeibeamte oder eben Regierungsräte, die Freiheit und Selbstentfaltung, wie sie im Nationalsozialismus von einer Mehrheit der Deutschen erfahren worden sei, habe die Signatur „banal“ nicht verdient. Arendts Urteil sei wohl nicht zuletzt ein klassenspezifisches: Hier blicke eine gebildete Deutsche auf einen kleinen Beamten ohne richtigen Schulabschluß.

Eine beeindruckende Atmosphäre von entspanntem Ernst hatte weite Strecken der Tagung beherrscht. Das änderte sich nur kurzfristig mit dem Auftritt von Raul Hilberg, der Arendt in schneidendem Ton ebenfalls wegen der „Banalitätsthese“ und der Einschätzung der Judenräte geißelte, die sie auf das ganze jüdische Volk und dessen Staatsgläubigkeit hätte erstrecken müssen. Alle Juden seien nach Hilbergs Auffassung staatsfromm gewesen, die Trennung, die Arendt zwischen jüdischem Volk und jüdischer Führung konstruiert hätte, habe es nie gegeben. Dabei trat ein Haß zutage, auf den einige der Diskussionsteilnehmer mit offenem Schrecken reagierten.

Hilberg hatte, als Arendt nach Jerusalem fuhr, bereits seit 1948 die Forschungen zum Holocaust betrieben, die dann 1961 in seinem Standardwerk „The Destruction of European Jewry“ erschienen. Darin enthielt er sich jeden moralisch-abstrahierenden Kommentars – ohne diese Enthaltsamkeit wäre ihm das Leben mit Akten wahrscheinlich kaum möglich gewesen. Und hier kam nun diese deutsche Bürgerstochter, diese Philosophin, die sich ohne allzuviel Vorbereitung über sein Thema hermachte und die ihre Beobachtungen zwischen den Parfümanzeigen eines New Yorker Magazins publizierte. Ihre historischen Fehler wurden ihm vorgehalten. Seit Jahren schon wird ihr Werk sehr viel intensiver diskutiert als seins. „Ich rede nur öffentlich über sie, weil ich merke, daß sie noch am Leben ist!“ Mindestens das hat diese Tagung bewiesen.