Im Urwald liegt Parkett

■ Erst wurde der Chefredakteur rausgeschmissen, dann die Redaktion besetzt. Nun gibt es zwei Zeitungen: "junge Welt" und seit heute "Jungle World". Ein Stimmungsbericht aus beiden Lagern

Im Dschungel wuchern die Metaphern: „Wir zupfen vorerst hier Bananen von den Stauden“, meldet sich die desertierte junge-Welt-Mannschaft heute aus dem Exil und kündigt ein paar Sätze später nicht weniger farbenfroh an: „Was der Spießer ,Blätterwald‘ nennt, paßt zu ihm, wir wollen den Urwald, die Verwilderung.“

Der Urwald liegt vorerst in einem geschichtsträchtigen Altbau am Tempelhofer Ufer in Berlin. Hier hat schon Rio Reiser Platten produziert und Jan Carl Raspe seine Meldeadresse gehabt. Nun sitzen in Klaus Behnkens großer Wohnung im dritten Stock eine Handvoll ehemaliger junge-Welt- Redakteure und malträtieren konzentriert ihre Laptops. In den Regalen stapeln sich Zeitschriften und Bücher, vom Balkon her weht ein laues Lüftchen und das Quietschen der Hochbahn herein. Welcome to the jungle.

Klar sind sie jetzt offiziell arbeitslos, aber auch ziemlich erleichtert, daß der Psychokrieg vorbei ist, den die Geschäftsführung mit 18 von 21 Redakteuren ausgefochten hatte – eben seit Chefredakteur Klaus Behnken handstreichartig entlassen worden war. Vier Wochen haben die empörten Redakteure ihre Zeitung besetzt gehalten, um gegen den Rausschmiß zu protestieren. Vier Wochen hatten sie noch Hoffnung, daß es irgendwie weitergehen wird, schließlich hangelt sich die junge Welt seit der Wende erfolgreich am Abgrund entlang. Vier Wochen lang haben sie daran geglaubt, daß schreibende Mitarbeiter für eine Zeitung unerläßlich sind und daß sich die Leser nicht täuschen lassen, wenn im Impressum statt ihrer Namen plötzlich die halbe Putzkolonne auftaucht.

Sie haben sich geirrt.

Geblieben sind ihnen 2.000 Mark Entschädigung und das ausstehende Maigehalt. Ein Witz, und trotzdem sind sie froh, erst einmal durchzupusten und so zu tun, als hätten sie sich niemals etwas sehnlicher gewünscht, als eine Wochenzeitung zu machen.

„Bei einer Tageszeitung verblödet man doch auf die Dauer“, sagt z.B. Jürgen Elsässer, der früher fast jeden Tag einen großen Artikel für die junge Welt schrieb und von dem man eigentlich glaubte, er brauche das – schon für sein Ego. Der neue Elsässer aber ist froh, nicht mehr bei der jungen Welt arbeiten zu müssen, und zur Bestätigung schaut er sich ab und zu die Seite mit den Leserbriefen an: „Für solche Verrückten will ich gar nicht mehr schreiben!“

Aber für wen dann? So ganz genau weiß das weder Elsässer noch Behnken. Vielleicht für die westliche Antifa, wie es ihnen Geschäftsführer Dietmar Koschmieder immer vorgeworfen hat? Schließlich verkaufte sich fast die Hälfte der ersten eigenständigen Jungle World im Westteil Berlins. Oder doch eher für die Kulturinteressierten? Schließlich fand man schon in der alten jungen Welt die klügsten und witzigsten Texte im Feuilleton, und außerdem ist es ja ein Pfund, wenn man als Fachblatt für Pop- und Alltagskultur aus Berlin kommt – im Gegensatz zu den notorisch zu spät kommenden Blättern aus Hamburg, Zeit und Woche. Von letzterer will man das Format übernehmen. Eventuell.

Und sonst? Seriöser solle die Zeitung auf jeden Fall werden, schließlich könne man nicht mehr wie bei einer Tageszeitung alles wegdrucken. „Da muß mehr reflektiert werden. Die Witze werden schneller schal, wenn sie die ganze Woche liegen“, sagt Klaus Behnken – viel mehr sagt er nicht. Wer drei Jahre lang jeden Tag nur an die Zeitung von morgen gedacht hat, tut sich halt schwer, wenn es darum geht, was nächste Woche noch von Belang sein könnte.

Irgendwie „schneller und aggressiver als der Freitag“, soll die Jungle World werden – doch schnell und aggressiv wirkt die Themenmischung nicht gerade, die sich als Loseblattsammlung auf dem Doppelbett ausbreitet: Der Euro ist ein Thema, die documenta natürlich, die Love Parade und auch die Galopprennbahn in Berlin-Hoppegarten. Immerhin: Eine Generalabrechnung mit dem deutschen Musikjournalismus ist auch dabei. Es wird wohl von der Qualität solcher Texte abhängen, wie oft sich die neue Wochenzeitung für vier Mark verkaufen läßt (die erste Ausgabe erscheint heute für 3 Mark) und ob die anvisierten 5.000 Abonnements für monatlich 15 Mark erreicht werden.

Damit könnten zumindest sechs Redakteure beschäftigt werden – für 1.000 Mark im Monat. Denn außer dem Ersparten einiger Redaktionsmitglieder sind die Kassen leer. Die Autoren schreiben umsonst – anzunehmen, daß sie sich gleichzeitig nach neuen Jobs umsehen. Oder auch alten: „Wir führen keine Ausschlußliste“, sagt Klaus Behnken, was soviel heißt, daß er es – Solidarität hin oder her – niemandem verübelt, gleichzeitig für Jungle World und junge Welt zu schreiben.

Und was wird aus ihm, wenn das Projekt scheitert? „Dann pack' ich die Koffer und fahr' nach Frankreich“, sagt Behnken, und es klingt, als wäre er in Gedanken schon fast dort. Oliver Gehrs

Der verlassenen Hälfte der jungen Welt nähert man sich am besten von der Parkseite, wo das sowjetische Ehrenmal im Dauerregen liegt. Da nimmt sich die kahle Industrie-Etage, in der sich die Redaktionsräume befinden, fast gemütlich aus. Auf einem Sperrmüllsofa sitzt Werner Pirker, ein freundlicher ruhiger Schnäuzermensch und erzählt in singendem Österreichisch von Stalins Parteitagen. Dinge, die eigentlich nur Parteihistoriker richtig zuordnen können, aber der Auslandsredakteur kennt sich aus, er war mal bei einer KP-Zeitung. Anhand von Parteitagen beschreibt er die Stalinisierung der jungen Welt in den Monaten vor dem Eklat. In seiner Erzählung ist Exchefredakteur Klaus Behnken Stalin, hat ebensowenig im Kopf und kann keine Zeile schreiben. Ein bißchen Schmutzige-Wäsche-waschen muß sein nach so einem Krieg.

Eigentlich sollte es aber um die Gegenwart gehen. Aber was machen, wenn alles Gegenwärtige noch Narben trägt? Zwei Etagen tiefer, wo die Truppe um Geschäftsführer und Eigner Dietmar Koschmieder vier Wochen lang die Zeitung gegen die rebellierende Redaktion machte, sind die Zeichen der Schlacht noch zu sehen. „Becker in die Produktion“, heißt es an der Wand.

Holger Becker, der stellvertretende Chefredakteur (falls es diese Position noch gibt), hat gerade die letzte Seite produziert. Heute geht es auf dem Titel um Machtkämpfe in Rußlands KP, paßt auch nicht schlecht. Becker reißt sich eine Büchse Bier auf und spricht von „Befreiung“. Neben Pirker und einer weiteren Kollegin ist er der einzige aus der Redaktion, der auf der Seite des Geschäftsführers geblieben war. Das Ergebnis sei eigentlich ganz gut für die Zeitung: „Wir sind den Mief des westlinken Sektenwesens los.“

Nur daß man auch nahezu die ganze Redaktion los ist. Links und rechts des Flurs sieht es aus wie nach einem Ehekrieg – wenn einer das Reihenhaus behält und der andere aus Trotz alle Bücher mitnimmt. In der Zeitung macht sich das bemerkbar, indem sie fast ganz aus Agenturmeldungen besteht. Nicht viel für ein Blatt, das gegen den Blick der bürgerlichen Medienmaschine anschreiben will. „Man kann auch sehr viel durch die Auswahl der Agenturmeldungen aussagen“, wehrt Holger Becker ab. Die „neue“ junge Welt habe zumindest schon mal ihre Schwerpunkte gesetzt, im Sozialen und in Ostdeutschland. Nun müsse man eben sehen, „ob das mit dem Aufbau gelingt“. Hundert Tage solle man der neuen Mannschaft schon lassen. Aus Praktikanten, Sympathisanten und freien Autoren wurde sie schnell zusammengeworben und findet sich einstweilen ganz hierarchiefrei als „Mitarbeiter“ im Impressum.

Heute waren es nur noch vier Abbestellungen, heißt es, nicht mehr 40, wie noch zu Beginn der Kündigungswelle. Und die sei ohnehin nicht so groß gewesen, wie behauptet wurde. Irgend etwas um die 15.000 Abonnenten habe die junge Welt noch, aber genau kann das niemand sagen. Geschäftsführer Koschmieder ist im Urlaub.

Die Misere habe ja schon viel früher begonnen, sagt Holger Becker und beziffert die potentielle Zielgruppe, an der bisher konsequent vorbeigeschrieben worden sei, auf 100.000. Unzufriedene Leser des PDS-nahen Neuen Deutschland. Unzufriedene Leser der taz. Und all die PDS-Wähler im Osten, „die den Laden wählen, weil sie denken, daß er was gegen die Zustände tut“. Becker betont sofort, daß er die PDS persönlch nicht mag. Die „anderen“ hatten auch ihm unterstellt, aus der jW ein PDS-Blatt machen zu wollen, obwohl sie doch selbst von der Partei bezahlt würden, wie eine Anzeige in der Jungle World gezeigt habe. Er, Becker, habe zwar ein paarmal die Standpunkte der Kommunistischen Plattform der Partei (KPF) wiedergegeben – aber daß man da gleich ein Parteiorgan sei: alles Quatsch. „Der Platz der jungen Welt ist der Platz, den eine nicht existierende Kommunistische Partei in diesem Land hätte.“

Irgendwie soll die junge Welt überleben. Mit nur mehr 18 Redakteuren will man die Ansprüche neu definieren: Ein Blatt machen, das „Aufklärung über die Tatsachen leistet“, „das Enthüllungen präsentiert und nicht auf Agenturen linke Locken kräuselt“. Kein „Frust-Blatt“ mehr, sondern eines, das „den Leuten was zu denken“ gibt. Falls denn die Leute über die junge Welt noch nachdenken wollen. Lutz Meier