■ Breloers „Todesspiel“ rückt ins Gedächntis, was die Linke lange verdrängte: die Opfer der RAF. Eine Erinnerung
: Abschied von gestern

In einem Aufsatz für den Rolling Stone beschreibt der amerikanische Popkritiker Greil Marcus die Folklore, mit der er aufgewachsen ist: „Nazis, die Männer, gegen die die Generation meiner Eltern angekämpft hatte, waren der wirksamste Bestandteil einer Mythologie, mit der ich mir, ähnlich wie andere Kinder, von Zeit zu Zeit Angst einzujagen pflegte. Sie waren so wie in den Spielfilmen, die ich mir später ansehen sollte – gefühllose, blonde, schmallippige Automaten mit Reitpeitschen. Diese Phantasien nahmen bei mir den Platz von Grimms Märchen ein. Doch Nazis hatten noch eine andere Funktion: Sie waren die einzige Personengruppe, auf die ich all meine Haßphantasien projizieren konnte, ohne das geringste Schuldgefühl zu empfinden.“

Meine Kinderfolklore hatte anderes Personal. Die bad guys waren amerikanische GIs oder fettgefressene Riesenkapitalisten mit Zigarre im Maul; ihnen gegenüber standen Heerscharen chinesischer Bauern, vietnamesischer kleiner Mädchen oder geschmeidig schleichender schwarzer Panther aus Amerika, die meine Freunde waren. Jeder von uns würde für den anderen sein Leben geben.

In den Zeitungen, die bei uns zu Hause herumlagen, sah ich auf Bildern, wie ihnen Pistolen an die Schläfen gehalten, sie mit gespreizten Beinen rücklings gegen Häuserwände gedrückt oder auf elektrische Stühle gesetzt wurden. Diese Gewalt war mir gegenwärtiger als jene, die meine Eltern beschäftigte: die Angst vor dem iranischen Geheimdienst, die Hausdurchsuchungen oder die Schüsse auf Rudi Dutschke, der bei uns mit einem Baby in einer Tragetasche ein und aus gegangen war. Ich konnte und wollte auch nicht genauer wissen, was es mit den beiden Kindern einer abgetauchten Freundin meiner Eltern auf sich hatte, von denen es später hieß, man habe sie „zur Ausbildung“ in ein Palästinenserlager bringen wollen.

Mit 15, während der Schleyer- Entführung, hatte ich, wie alle meine Freunde, definitiv den Eindruck, die Party sei vorbei. (Keiner von uns ist auf die Idee gekommen, die Depression unserer Eltern etwa mit rabiatem Frohsinn zu kontern – der mußte auf die Achtziger warten). Aus dem einzelnen Kapitalisten der Kinderfolklore war eine geschlossene, waffenstarrende Phalanx aus Polizisten, Politikern, Hausmeistern, Richtern, Lehrern und Soldaten geworden, die wie eine Lawine in slow motion auf uns zustürzten. Es stand völlig außer Frage, daß Stammheim eine Folterburg war; Popstars waren die RAF-Leute, politische Gefangene und schließlich Mordopfer des Systems. In den Postillen, die ich damals las, fanden sich abenteuerliche Theorien: Unter den Sohlen von Andreas Baader habe man Wüstensand gefunden. Teuflischerweise hatte man also vorgetäuscht, ihn austauschen zu wollen, hatte ihn nach Mogadischu geflogen, wie ein Maskottchen den Flugzeugentführern vor die Nase gehalten, wieder zurückgeflogen, und dann liquidiert. Der Mythos vom Mord in Stammheim war das heilige Zentrum, das jedes RAF- „Volksgericht“, jeden Genickschuß überstrahlte. Und wieder war die eigene Erfahrung nicht in das Szenario eingegangen: vom sozialdemokratischen Bildungssystem an meiner und anderer Leute Schulen, vom allgemein etablierten antiautoritärem Diskussionsstil, von neuen Mädchen und Jungs, vom veränderten öffentlichen Reden über die deutsche Vergangenheit: also vom Sieg der Studentenbewegung, der Eltern. Ebenfalls ausgeblendet war selbstverständlich, daß Hanns Martin Schleyer Gewalt angetan wurde. Er war eine Charaktermaske von vielen. Wenn du sie stichst, bluten sie nicht. Oder: „Schlag einen und erziehe hundert.“

Vor allem aber war ausgeblendet, daß der Terror gegen 86 Mallorca-Urlauber, die das Pech hatten, zum falschen Zeitpunkt in der Lufthansa-Maschine „Landshut“ zu sitzen, irgend etwas mit den Popstars zu tun hatte. Die beiden Ereignisse, Schleyer und Landshut, waren nicht etwa Teil eines Kontinuums von Terror – sie waren zwei voneinander getrennte Entitäten, die ohnehin beide von der Gewalt der „Isolationsfolter“ gänzlich überschattet wurden. Nie wäre mir damals klargeworden, daß der Oberentführer der „Landshut“ denselben Platz auf diesem Kontinuum okkupiert wie ein launischer KZ-Aufseher.

Wie eine Fliege in Bernstein hat sich diese Trennung erhalten, obwohl das ganze restliche Weltbild gründlich umgeschüttelt ist. In diese seltsame Erstarrung hat Heinrich Breloers „Todesspiel“ Bewegung gebracht. Die Spielfilme, die mir das Thema im nachhinein illustriert haben – also „Die bleierne Zeit“, „Die dritte Generation“, „Stammheim“, aber natürlich vor allem „Deutschland im Herbst“ –, hatten sich in erster Linie mit den RAF-Leuten beschäftigt und aus diesen wechselweise Künstler, gute, nur etwas zu empfindsame Geschwister, Opfer der deutschen Geschichte oder klassisch-zeitlose Figuren gemacht, nach deren Tod unser Leben noch ein bißchen kälter und feiger ist als vorher.

Bei Breloer wird plötzlich zur Identifikation mit einer Figur eingeladen, die damals für mich noch in der hochgerüsteten Schweinephalanx stand, wo sie bis zum Nato-Doppelbeschluß auch stehenblieb: mein alter Feind Helmut Schmidt, plötzlich verstehe ich, in welcher Lage er war, und daß der Konflikt zwischen dem, was Breloer im Interview mit ihm „Staatsräson“ nennt, und der Rettung eines individuellen Lebens kein Popanz war. Wenn mörderische Erpressung statt Kampf um Zustimmung die Lage bestimmen soll, steht wirklich das Ganze auf dem Spiel. Im Grunde war Schmidt Antigone; nur, daß er seinen Bruder begraben mußte, obwohl er sich für Kreon und den Staat, statt für das Blutgesetz entschieden hat.

Breloer und der ARD sind vorgeworfen worden, sich umstandslos die Sache des Staates zu eigen zu machen. Abgesehen davon, daß diese Sache mitunter vielleicht nicht die schlechteste ist, wenn es um die Rettung von 86 oder genauer 87 Leuten geht, sieht man doch in „Todesspiel“ auch sehr genau den Kampf, den es im Krisenstab zwischen den Scharfmachern und den Demokraten gab. Strauß und Zimmermann hätten es gar nicht übel gefunden, wenn einfach jede Stunde einer der Terroristen vor laufenden Kameras abgeknallt worden wäre. Auge um Auge! Ihr nehmt Geiseln? Können wir auch!

Daß es dazu nicht gekommen ist, und daß Schmidt am Ende auch auf eine Siegerpose verzichten konnte, hat mir gezeigt, daß die good guys von damals doch irgendwie gewonnen hatten. Mariam Niroumand