■ Schlagloch
: Nieder mit den deutschen Geschichten Von Nadja Klinger

Jim Rakete, Fotograf: „Es scheint leider interessanter zu sein, über Dinge zu reden, die mit Wahrheit nichts zu tun haben. Das konnte man eben an dem Gespräch mit Stefan Raab sehen: Spaß ist wichtiger.“ Moderatorin: „So? Was hätten Sie denn gern von ihm gewußt?“ Rakete: „Ich war erleichtert, denn ich wollte nichts wissen.“ (Aus einer Talkshow im N 3, Juni 1997)

Ich war auch erleichtert: Ich verweigerte über Monate jegliche Nachrichten und stand das problemlos durch. Mein Interesse für Politik erwies sich plötzlich als bedingt. Es ist eng an die Tatsache gebunden, daß ich täglich zwei Zeitungen bekomme und im Hintergrund meines Alltags Nachrichtensendungen laufen, in denen Fragen behandelt werden, die ich beantwortet haben will, obwohl ich sie gar nicht gestellt habe.

Nun aber, da meine Zeitungen vom Briefkasten direkt ins Altpapier wanderten, Radio und Fernseher schwiegen, verschwand sogar das Gefühl, irgend etwas könnte, sozusagen in meiner Abwesenheit, passieren. Als ich die Nachrichtenverweigerung schließlich beendete, war ich wieder erleichtert: Es war in der Zwischenzeit wirklich nichts passiert. Der Kirchentagspräsident schickte sich gerade an, „die Wiedervereinigung in den Köpfen“ zu fördern, gleichzeitig verweigerte Arnold Vaatz, christdemokratischer Umweltminister in Sachsen, seine Teilnahme am Schlußgottesdienst, weil dort Heino Falcke predigte, der die „Erfurter Erklärung“ mit unterzeichnet hatte, außerdem baten einige Bürgerrechtler die Kirchentagsleitung, den ehemaligen Leipziger SED-Chef Roland Wötzel nicht auf einem Forum zu „Versöhnung und Gerechtigkeit“ reden zu lassen. Und Thomas Langhoff, Intendant des Deutschen Theaters in Berlin, beklagte in einem Interview unser nach wie vor geteiltes Land: „Ich sehe das mit großer Sorge. Auch mit Traurigkeit, weil ich inzwischen begriffen habe, daß ich zu meinen Lebzeiten eine wirkliche Annäherung nicht mehr erleben werde.“ Nicht, daß ich einfach Bestätigung dafür haben will, ruhig einmal aus der Ost-West-Debatte aussteigen zu können, da sie ohnehin weder vorwärtskommt noch einen unerwarteten Verlauf nimmt. Nein, ich bin viel euphorischer: Es wäre schlimm, wenn sich in dieser Angelegenheit etwas ändern würde!

Je näher die Bundestagswahlen heranrücken, desto näher kommen auch Politiker und Medien an den Osten. Zeitungen vermelden bereits, wie „tapfer“ der Vorsitzende der Sozialdemokraten „durch die neuen Länder tingelt“. Manfred Stolpe verkündet, daß der Osten „das Schicksal Deutschlands“ sei, und wenn man die Menschen dort im Stich lasse, fügt Reinhard Höppner, Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, hinzu, werde das „an ihren Seelen nicht spurlos vorübergehen“. Sogar der freidemokratische Wirtschaftsminister Günter Rexrodt, dessen Partei es in Ostdeutschland gar nicht mehr gibt, ist plötzlich gegen eine Kürzung der Wirtschaftshilfe für die sogenannten neuen Länder. In Anbetracht all dessen wünsche ich, daß Thomas Langhoff auch weiterhin traurig sein kann: Ich hoffe, der Westen nähert sich nicht zu sehr dem Osten an.

Es wäre nicht auszudenken, wenn im Zuge der dritten Bundestagswahl nach der Wiedervereinigung Anliegen wie das des Intendanten des Deutschen Theaters plötzlich erhört werden würden. „Ich bin nicht für eine romantisierende Erinnerung, wohl aber dafür, daß ihr im Westen euch anhört, was wir im Osten erlebt haben“, sagt er. „In vierzig Jahren sind merkwürdige Riten, Sitten und Gebräuche entstanden, von denen wir sprechen möchten.“ So stelle ich mir vor, ich müßte lauter Westlern meine Geschichte erzählen. Einen Anlaß, außer dem, daß Osten redet und Westen zuhört, gäbe es nicht. Ich stelle mir vor, die Zuhörer würden mich am Ende auch noch verstehen: Wie beliebig und auswechselbar müßte meine Geschichte sein, um so Wirkung zu erzielen! Tut mir leid, diesen Beitrag verweigere ich der deutschen Einheit zu deren Vollendung.

Überall dort, wo Ostdeutsche und Westdeutsche sich einfach unterhalten, soll auch nur pure Unterhaltung stattfinden. So haben wir wenigstens Spaß miteinander, weil wir nicht erst umständlich Beziehungskisten bauen und dann zugeben müssen, daß uns an dem anderen doch gar nichts interessiert, weil er mit unserem Leben sehr wenig zu tun hat. Im Grunde will doch auch Jim Rakete in der NDR- Talkshow nicht Ernst machen. Er tut zunächst aber so. Das bannt Betroffenheit in das Gesicht der Moderatorin. Weil auch sie, vermutlich ohne daß sie das näher erklären könnte, meint, daß es unsere sogenannten wahren Geschichten sind, die uns voneinander trennen.

In Wahrheit sind unsere Verhältnisse, überall wo wir sie wirklich miteinander eingehen, eindeutig: Wir sind Besitzer und Besitzlose, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Chefs und Angestellte, Hauseigentümer und Mieter, Rechtsanwälte und Rechtsschutzversicherte, Autofahrer und Fahrradfahrer, Betrüger und Betrogene. In welchem Anteil auf den jeweiligen Seiten der Beziehungen Ostler und Westler vertreten sind, ist für die Beschreibung des sozialen Gefüges in Deutschland wichtig und läßt, rein statistisch, auf den geistigen Zustand der Menschen schließen.

Kehrten wir die Zahlen aber um, würde sich an dem sogenannten deutsch-deutschen Verhältnis nichts ändern: denn unsere Geschichten wären dadurch für den jeweils anderen nicht verständlicher geworden. Deshalb sollten wir sie für uns behalten, anstatt sie vorzuzeigen wie einen Personalausweis und dabei zu hoffen, als mehr identifiziert zu werden als ein einfacher deutscher Staatsbürger. Jede Lebensgeschichte hat ihre Bestimmung dadurch, daß sie aus einem Menschen den macht, der er ist. Sie kann viel erklären, klärt aber nicht die bestehenden Verhältnisse. Niemand wird ihr gerecht, indem er sie in die Gegenwart übernimmt. Parteien möchten den Wählern im Osten Kandidaten anbieten, die „Träger eines neuen ostdeutschen Selbstbewußtseins“ sind: Die größte Ungerechtigkeit aber, die unseren privaten Geschichten widerfahren kann, ist deren Politisierung.

Leben wir doch unsere Verhältnisse aus, anstatt zu versuchen, die durch sie gegebenen Unterschiede wegzuerzählen: Der Chef bestimmt, was der Angestellte tut, der Hausbesitzer legt die Hausordnung fest, und der Betrüger betrügt den, der sich betrügen läßt. Jeder besinnt sich auf das, was er will, so muß er sich – letztendlich – mit dem anderen auseinandersetzen. Dabei bewegt sich jeder in seinem Rahmen, ohne seine Interessen, seine Geschichte preisgeben zu müssen.

Der Mythos, nach dem der Ostler den Rucksack, in dem er seine Geschichte mit sich trägt, nicht mit in den Westen bringen darf, ist wie der Mythos vom ach so ursprünglichen Prenzlauer Berg: Er ist zu nichts da, als sich gegen die Veränderungen zu behaupten. Weil der Westen gesiegt habe, erklärt der Theatermann Langhoff, hätten wir keine Fragen mehr. Bloß weil wir also keine Fragen mehr haben, also auch keine Antworten, wollen wir Geschichten erzählen.