Im bürgerlichen Paradies

Lessing und Goethe, ja sogar Arno Schmidt gerieten ins Schwärmen. Jetzt liegt sie nach über 200 Jahren erstmals wieder komplett und unbearbeitet vor: Johann Gottfried Schnabels Haus-, Lese und Trostbuch „Insel Felsenburg“  ■ Von Frank Schäfer

Deutschland, Mitte des 18. Jahrhunderts. Wir sehen uns um in der guten Stube einer protestantisch- tugendsamen Bürgerfamilie. Da! Das aufgeräumte und, nun ja, recht übersichtliche Bücherregal! Eine Bibel. Noch eine Bibel. Und vier dicke Oktavbände mit prächtig- barocker Titelei: „Wunderliche / FATA / einiger / See= Fahrer, / absonderlich / ALBERTI JULII, / eines gebohrnen Sachsens, / Welcher in seinem 18den Jahre zu Schiffe / gegangen, durch Schiff= Bruch selb 4te an eine / grausame Klippe geworffen worden ...“ etc. etc. – seit dem 19. Jahrhundert, spätestens nach Ludwig Tiecks Bearbeitung von 1828, besser bekannt als „Insel Felsenburg“, Haus-, Lese- und Trostbuch des aufgeklärten Bürgertums. Alle großen Geister gerieten darob ins Schwärmen: Gotthold Ephraim Lessing, Johann Gottfried von Herder, Karl Philipp Moritz, Christoph Martin Wieland, Johann Wolfgang von Goethe – sehr viel später auch Arno Schmidt.

„Bevor etwa der junge Handwerksgeselle die Wanderschaft durch's weite wirre ,Reich‘ antrat, gab ihm der Meister die 2.500 Seiten mahnend zu lesen: als Ersatz für noch mangelnde, praktische Lebenserfahrung.“ Für uns Nachgeborene indessen „ein gültiges und dabei hinreißendes Vollbild der Jahre zwischen 1710 und 30“. So lautete es im Originalton von Arno Schmidt, der schon in den sechziger Jahren einen vollständigen, vor allem aber sprachlich und moralisch unbearbeiteten Neudruck forderte, der dann freilich noch einige Zeit auf sich warten ließ. Nicht erst Tieck hatte – sexuell – Anstößiges entfernt und am Ausdruck herummodernisiert, um das Buch auch für die jugendliche Leserschaft tauglich zu machen.

Nun endlich ist es vollbracht. Nach über 200 Jahren kann man den Roman wieder so lesen, wie ihn sich Gisander, alias Johann Gottfried Schnabel, gedacht haben mochte: in allen vier Teilen und in der grobschlächtigen, mit vielen lateinischen und französischen Fremdwörtern aufgemotzten Prosa des jungen 18. Jahrhunderts. Die einstmals von Arno Schmidt initiierte Reihe der „Haidnischen Alterthümer“ bei Zweitausendeins macht's endlich wieder möglich, noch dazu recht wohlfeil. „Messieurs: wir erheben uns von den Plätzen.“ (Arno Schmidt hätte hier wohl noch einen weithin hörbaren „Gong“ plaziert.)

Schnabel verknüpft traditionelle Gattungsmuster, der Gesellschaftsutopie, des Schelmenromans sowie der damals im Gefolge des Defoeschen „Robinson Crusoe“ gerade sehr beliebten Robinsonade, zu einer eigenständigen Romankomposition, die schon bald darauf viele Nachahmer findet (sogar Voß, der Homer-Übersetzer und Radikalaufklärer, hat eine Fortsetzung geschrieben, die leider nicht mehr erhalten ist). Eberhard Julius, Ich-Erzähler der Rahmengeschichte – abermals eingerahmt durch die Vorrede des fiktiven Herausgebers Gisander, der berichtet, wie er zu dem vorgelegten Manuskript gekommen ist –, Eberhard Julius also bekommt auf recht ominöse Weise ein Schreiben vom steinalten Bruder seines Urgroßvaters, Albert Julius, der ihn auf die Insel Felsenburg einlädt. Gerade rechtzeitig, denn Eberhard hat kurz zuvor durch Tod und einen geschäftlichen Bankrott seine Familie verloren. So nimmt er die Einladung an und schifft sich mit anderen vom Schicksal geprügelten Emigranten ein, um Europa den Rücken zu kehren.

Glücklich auf der Insel Felsenburg angelangt, offenbart sich ihnen eine soziale Idylle, in der die Menschen ohne Hunger und Not, „in aller Frömmigkeit, Liebe und Einigkeit mit einander lebten, und nach dem Exempel der ersten christl. Kirche eine treuherzige Gemeinschaft der zeitlichen Güter untereinander hielten, keinen Eigennutz, auch im allergeringsten Dinge zeigten, sondern ihren Nächsten und sich selbst zu dienen, alles mit Lust verrichteten, wozu sie sich geschickt befanden“.

Eine Art kommunistischer Urgemeinschaft also, aber streng lutherisch und unter einem sanften patriarchalischen Regiment. Ausführlich wird nun diese Utopia beschrieben, seine Landschaft, die einzelnen Dörfer, Gewerbe und Handwerk, gelegentliche Expeditionen (etwa zur benachbarten Insel Klein-Felsenburg), die Entstehungs- und Vorgeschichte usw. In diesen erzählerischen Rahmen sind insgesamt 22 Autobiographien europamüder Auswanderer integriert, die das süße Leben im Insel- Eldorado aufs schärfste kontrastieren: Europa steht für eine gänzlich amoralische Aristokratie, für Korruption, Gier, militärische Barbarei und die Intoleranz des Klerus. Der Roman changiert somit zwischen Fluchtutopie eines resignativen, politisch noch nicht emanzipierten Bürgertums und Fundamentalkritik am Ancien régime. So die allgemeine Lesart einer sich vornehmlich auf den ersten Teil kaprizierenden Germanistik.

Nach der Lektüre aller vier Bände muß man diese etwas korrigieren: Der Dualismus zwischen dem Inselparadies und der bösen europäischen Empirie hebt sich nämlich später immer mehr auf. Die Insel Felsenburg sinkt sukzessive herab auf den Standard der Alten Welt. Johann Gottfried Schnabels Kotau vor dem Absolutismus? Eine konservative Wende in seinem Denken? Oder zeigen die Säkularisierungstendenzen des Zeitalters bei ihm Wirkung? Hat er mithin den Glauben an die protestantische Religion als gesellschaftlich integrativen Faktor verloren? Die nicht genug zu lobende und dringlichst zu empfehlende Edition der „Insel Felsenburg“ ist noch für ein gutes Dutzend Dissertationen, aber auch für einsame Lesestunden gut.

Johann Gottfried Schnabel: „Insel Felsenburg, Wunderliche Fata einiger Seefahrer“. Herausgegeben von Günter Dammann. Verlag Zweitausendeins, Frankfurt a.M. 1997. 2 Bände und ein Kommentarband, zus. 2.692 Seiten, 79 DM