Kerker und Todesstrafe für „Deichstecher“

■ Die Oder droht sich zurückzuholen, was Friedrich II. ihr vor 250 Jahren abtrotzen ließ. Eine Ausstellung zum Jubiläum der Trockenlegung wartet auf das Ende des Hochwassers

Oderbruch (taz) – Merkwürdig, daß sich die Katastrophen Jubiläumsdaten aussuchen. „250 Jahre Trockenlegung des Oderbruchs“ wollte man dieser Tage im Landkreis Oder-Spree feiern. Mit Fischerfesten, Oderrundfahrten und einer Ausstellung. Bloß hält sich der Fluß nicht an den Feierkalender und will sich ausgerechnet jetzt das Land zurückholen, das ihm vor 250 Jahren abgetrotzt wurde. Die 22 Schautaufeln für die Ausstellung über Pionier- und Fronarbeit im Oderbruch liegen – in Bettlaken für die Evakuierung eingewickelt – im Bildungs- und Beschäftigungsverein (BBV) von Wrietzen. Wrietzen wiederum liegt gleich hinter dem Schlafdeich – und schlimmstenfalls in Kürze unter Wasser. 3.000 Hektar zwischen Schlafdeich und Oderdamm sind Katastrophengebiet. „Wichtig ist bloß, daß der Kopf rausguckt“, witzelt Dietrich Oestermann, der Geschäftsführer des BBV. Er organisiert auf ABM-Basis alles – vom Fahrradweg bis zum Kulturprojekt. 150 Arbeitslose finden bei ihm eine temporäre Beschäftigung. Da muß der Kopf klar bleiben.

Derzeit regiert die Bundeswehr, wo vor 250 Jahren das königliche Militär die Anwohner zu Hand- und Spanndiensten zwang. Initiiert 1747 durch Friedrich II. und unter der Aufsicht von Kriegsrat von Haerlem bis 1753 durchgepaukt, wurde damals der Oderlauf um 10 Meilen verkürzt. Statt wie früher in drei Biegungen, von Güstebiese, an Wrietzen und Bad Freienwalde vorbei, sollte die Oder geradeaus fließen, der neue Kanal mit einem neuen Damm abgeriegelt werden. Genau auf diesen werfen jetzt die Bundeswehrhubschrauber im Minutentakt Sandsäcke, stopfen Fichten-Faschinen in die Risse.

Durch das alte Flußbett fließen sollte nur das Restwasser, die Alte Oder, heute vom Hinterland gesichert durch den berühmten Schlafdeich. Am Mittwoch erhöhten ihn Bundeswehrsoldaten auf drei Meter, damit die drohende Flut nicht aus dem nördlichen Oderbruch ausbricht. Wenn das Wasser kommt, wird es in der „Badewanne“ bis neun Meter hoch stehen. Es wird aussehen wie bei der letzten großen Flut 1947 oder vor dem Jahre 1747. Theodor Fontane berichtet in seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ von dem „Wasser, das die Dörfer durchströmte und niemand anders als mit Kähnen zu dem anderen kommen konnte“.

Genau wie das Hochwasser jetzt änderte Friedrich II. mit seiner „Verwallung“ und den Trockenlegungsarbeiten zwischen Alter und Neuer Oder Lebensläufe. Bevor die vom König aus ganz Europa gerufenen Kolonisten die Dörfer im Bruch bauten, deren Namen alle mit „Neu“ (Neu Reetz, Neu Küstrinchen, und noch weitere 41) beginnen, lebten dort nur Fischer. Sie wollten nicht Bauern werden, denn es gab Hechte, Zander, Aale in unglaublichen Mengen. Und im Sommer, wenn das Wasser zu warm wurde, krochen die Krebse auf die Bäume, „daß man sie wie Obst abschütteln“ konnte. Den Widerstand versuchte der König mit der Androhung der Todesstrafe und Kerker für jene zu brechen, die „Deiche durchstechen“.

Die alten Fischerdörfer wie Alt- Kiez oder Alt-Reetz gelten derzeit als Notstandsgebiet Stufe IV, lebensgefährlich, seit Mittwoch nachmittag menschenleer. Die Sonne scheint, die Blumen blühen, die Oder drängt vier Kilometer weiter mit Tonnengewalt gegen den durchweichten Deich. Zu sehen sind zwei Katzen, zu hören ein verlassener Hofhund und Hubschrauber auf Hubschrauber. Am Mittwoch konnte man Fischerland, das zu Ackerland geworden ist, noch trocken betreten. Anita Kugler, Christian Semler Debatte Seite 10