Die Zweite Schuld der DDR

■ Angelika Timm, einst die Israel-Expertin und Dolmetscherin Erich Honeckers, hat ein differenziertes Buch über den Antizionismus der DDR geschrieben

An Versuchen, das Verhältnis der untergangenen DDR zum Staat Israel aufzuarbeiten, mangelt es nicht: Michael Wolffsohns polemische „Deutschland-Akte“ scheiterte an der unbekümmerten Vernachlässigung minimalster historiographischer Standards (vgl. taz vom 19. 12. 1995). Mario Keßlers kritisch-differenzierte Studie über die „SED und die Juden“ blieb auf halbem Wege stehen; es fehlten die verschlungenen Pfade der DDR- Politik gegenüber den Juden auch für die Zeit nach 1967 (vgl. taz vom 10. 9. 1996). Und nun dies: eine gut 600 Seiten umfassende Studie der Berliner „Israel-Wissenschaftlerin“ Angelika Timm.

Durchgehende Gründlichkeit und Sachlichkeit des Buches lassen aufhorchen: Minutiös zeichnet Timm jene proisraelischen Akzente nach, die die Israelpolitik der SED-Regierung noch in den späten vierziger Jahren prägten; antifaschistische Befindlichkeiten und die sowjetische Geopolitik bildeten den politisch-psychologischen Rahmen. Der Kalte Krieg beendete jäh die kurze Tauwetterperiode. Fortan wies Ost-Berlin „Wiedergutmachungsforderungen“ Israels und der Judenheit harsch zurück. Den Antisemitismus glaubte man in der DDR mit „Stumpf und Stiel ausgerottet“ zu haben; dies, so die bequeme Weißwäscher-Formel, sei die beste Wiedergutmachung.

Daß im Gefolge einer zunehmend proarabischen Orientierung die antiisraelischen Töne immer unerbittlicher wurden, macht die Autorin auf anschauliche Weise deutlich. Ihre aufwendigen Recherchen in deutschen, israelischen und amerikanischen Archiven belegen, daß Antizionismus und Antisemitismus zeitweise nicht zu unterscheiden waren. Vor allem während des Libanonkrieges von 1982 schürten die staatlich gesteuerten DDR-Medien eine Hetzkampagne, die von umstandslosen Gleichsetzungen des israelischen Libanonkrieges mit den Verbrechen Nazideutschlands geprägt waren.

Die Legende vom Kotau der jüdischen Gemeinden

Mit Nachdruck widerlegt Timm die Wolffsohnsche Legende eines devoten Kotaus der jüdischen Gemeinden vor der antizionistischen Agitation. Unveröffentlichte Akten ebenso wie verbandsinterne Nachrichtenblätter legen ganz im Gegenteil Zeugnis von den andauernden Kontroversen jüdischer Repräsentanten mit dem DDR- Staat ab.

Erst in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, unter dem Eindruck des Gorbatschowschen Klimaumschwungs, zeichneten sich auch in der DDR Mäßigungstendenzen ab. Den historischen Skandal einer „zweiten Schuld“ der DDR nicht nur vage behauptet, sondern umfassend dokumentiert zu haben, macht das Verdienst der Timmschen Studie aus. Das Buch schließt eine Forschungslücke, deren materialer Ertrag über das hinausgeht, was jene eher mentalitätsgeschichtlichen Untersuchungen leisten, die sich vornehmlich auf die israelpolitischen Befindlichkeiten in der westdeutschen Linken bezogen haben. Statt schriller Töne sind Timms wertende Schlußfolgerungen von Vorsicht, Umsicht und Zurückhaltung geprägt. Die Dokumentation von 68 Schriftstücken aus dem archivalischen Erbe der DDR erlaubt darüber hinaus auch eigenständige Einblicke in die Binnenperspektiven realsozialistischer Israelpolitik.

Eine geistige Wende unter staatsnahen Intellektuellen ausschließlich für die Zeit nach 1989 anzunehmen – zumal unter opportunistischen Vorzeichen – wäre sicherlich zu kurz gegriffen. Zu Recht weist Angelika Timm auf jenes geistige Tauwetter der achtziger Jahre hin, das selbst unter den publizistischen Eliten eine „kritische Selbstkorrektur“ einleitete. Unverkennbar ist jedoch, daß sich in die kritischen Überlegungen der Autorin nostalgische Töne mischen: Die DDR mit Begriffen wie „Diktatur, Unrechtsstaat oder Totalitarismus“ in Verbindung zu bringen, fällt Timm sichtlich schwer; für sie ist die Wende zu einem bloßen Paradigmenwechsel verkommen, in der die überkommene Antifaschismus-Rhetorik der SED in spiegelbildlicher Umkehrung wiederkehrt.

So sind es nicht die dargestellten ostdeutsch-israelischen Pathologien, die kritische Rückfragen provozieren. Wer nach Ursachen für die zerrütteten Beziehungen der realsozialistischen DDR zum zionistischen Staat Israel fragt, darf von persönlicher Mitverantwortung und Haftung nicht schweigen. Immerhin gehörte Angelika Timm seit den späten siebziger Jahren zu den führenden Israel-Experten der DDR. An der ideologischen Legitimierung und Formulierung antiisraelischer DDR-Politik war sie nicht nur publizistisch beteiligt. Wann immer DDR-Politiker mit israelbezogenen Fragen konfrontiert waren, trat Timm als Beraterin auf – nicht zuletzt als gefragte Hebräisch-Dolmetscherin Erich Honeckers. In der Endphase der DDR bemühte sich die „Israelogin“ zusehends um die Verbreitung differenzierter Wahrnehmungen nahöstlicher Realitäten. Seither treibt Angelika Timm die kritische Aufarbeitung des ostdeutsch- israelischen Verhältnisses um: hauptberuflich im Rahmen ihrer Dozententätigkeit an der Berliner Humboldt-Universität, zeitweise auch als Gastprofessorin an der Hebräischen Universität Jerusalem und an der US-amerikanischen John-Hopkins-Universität.

Vor diesem Hintergrund erscheint es legitim, das Buch auch als die öffentliche Selbstreflexion individuell faßbarer Anteile an dem historisch-politischen Desaster lesen zu wollen. Daß Angelika Timm Wert auf die Feststellung legt, „personale Schuldzuweisungen weitgehend außerhalb der Betrachtung“ zu lassen, klingt auf den ersten Blick großherzig. Die aufmerksame Lektüre hingegen legt den Befund nahe, daß Akteure und Israel-Experten der zweiten Reihe – bis auf versprengte Andeutungen und Fußnotenhinweise – vom gnädigen Mantel des Verschweigens umhüllt bleiben.

Daß Timm ihre eigene Person zurückstellt, mag persönlicher Bescheidenheit geschuldet sein. Aber warum enthält die „Auswahlbibliographie“ nicht eine einzige Publikation der Autorin aus DDR- Zeiten? Nicht einmal die 1987 mit einem Umfang von 338 Seiten fertiggestellte „Dissertationsschrift B“ über die „rechte israelische Sozialdemokratie“ findet Erwähnung, während kleinere Aufsätze Timms aus den neunziger Jahren wie selbstverständlich aufgelistet sind. Drückt diese dokumentarische Lücke Scham darüber aus, daß auch die Autorin einst dem DDR-spezifischen Antizionismus verpflichtet war?

Dezent angedeutete Insider-Kenntnisse

Vielleicht ist es noch zu früh, eine offene bzw. offensive Auseinandersetzung mit individuellen Widersprüchen und Verstrickungen erwarten zu wollen. Gleichwohl sind es die memoirenhaften Spuren, die immer wieder die objektivistische Diktion der Studie beleben – glücklicherweise; denn gerade die dezent angedeuteten Insider-Kenntnisse machen die Lektüre so spannend. Angelika Timm ist ein irritierender Beitrag zur Aufklärung des gestörten Israel- Bildes in der DDR gelungen; allen Einwänden zum Trotz könnte das Buch zum klassischen Standardwerk avancieren. Martin Kloke

Angelika Timm, „Hammer, Zirkel, Davidstern. Das gestörte Verhältnis der DDR zu Zionismus und Staat Israel“, Bouvier Verlag, Bonn 1997, 614 Seiten, 68 DM