Pick Pockets
: Am Morgen liest die Zofe

■ Unwiderstehliche Schmöker für den Urlaubskoffer: Das lesetüchtige 19. Jahrhundert hat die besten hervorgebracht

Sie haben Ihre Urlaubskoffer gepackt, ein Plätzchen für die Urlaubslektüre freigehalten, doch am Bahnhof oder Flughafen vor den Taschenbuchregalen wissen Sie vor lauter Büchern nicht, zu welchem Sie greifen sollen. Da will ich Ihnen rasch noch ein paar Hinweise auf richtige Schmöker geben, die sich flüssig weglesen lassen, aber keinen schalen Nachgeschmack nach allzu Trivialem hinterlassen.

Das lesesüchtige 19. Jahrhundert hat die schönsten Schmöker hervorgebracht, und manche von ihnen sind heute noch wunderbar zu lesen. „Verlöscht die Dame die Lampe spät des Nachts beim Lesen der ,Geheimnisse‘, so liest das Kammermädchen am frühen Morgen stehend darin.“ Der hübsche Satz stammt aus einer zeitgenössischen Rezension des berühmtesten Fortsetzungsromans des 19. Jahrhunderts, Eugène Sues „Die Geheimnisse von Paris“. Das Buch schildert tausend Abenteuer und riskante Unternehmungen im monströsen Dickicht der Pariser Unterwelt, und man weiß nicht, ob man mehr das erzählerische Tempo bewundern soll oder die Raffinesse, mit der handfeste Geschichten zu einem Romankosmos verwoben werden.

Wilkie Collins, der Urvater des Detektivromans, brachte 1880 seinen Thriller „Jezebels Tochter“ heraus, eine pittoreske Story um geheimnisvolle Giftfläschchen, eine verführerische Witwe neben noch verführerischerer Tochter, um gruselige Irre, um Macht und Intrigen. Das spielt übrigens nicht in London, sondern in Frankfurt am Main.

Noch gruseliger geht es in Roderick Anscombes erstem Roman „Das geheime Leben des László Graf Dracula“ zu. Der amerikanische Autor ist von Haus aus Psychiater, Spezialgebiet Schizophrenie, und dies hat er äußerst effektvoll mit dem alten Vampirmythos verknüpft. Es geht um den schüchternen Bruder des notorischen Grafen Dracula; er reist 1866 als Medizinstudent nach Paris, wo er nicht nur, wie sich das für Paris gehört, die Liebe entdeckt, sondern eine in ihm schlummernde, mörderische Gier nach Blut.

Sollte Ihnen derart Schauerliches weniger liegen, weil Ihnen im Urlaub der Sinn nach ruhigem Schlaf und freundlichen Phantasien im Liegestuhl steht, dann greifen Sie zu Elizabeth von Arnims „Jasminhof“. Die spätviktorianische Bestsellerautorin, die seit einigen Jahren in Deutschland eine ganz ungewöhnliche Renaissance erlebt, bleibt zwar auch hier bei ihren bewährten Leisten des amüsanten Gesellschaftsromans um Liebe, Ehe, Etikette, aber das allzu Süße und Sonnige wird, wie bei dieser Autorin üblich, stets durch allerhand Spott und beißenden Witz aus den Untiefen der Anspruchslosigkeit gerettet.

Schließlich noch ein Hinweis auf den ungewöhnlich spannenden Roman eines jungen Autors aus Island. „Die Teufelsinsel“ ist eine Familiensaga der ganz besonderen Art: wild, schrill, sehr modern, mit Akteuren, die mehr von Elvis Presley als von der Edda halten. Das Buch ist übrigens verfilmt worden und demnächst auch in deutschen Kinos zu besichtigen. Falls Ihr Urlaub Sie an den Nordatlantik führen sollte, wäre dies jedenfalls die passende Reiselektüre. Ich wünsche gute Reise. Und gute Unterhaltung. Klaus Modick

Eugène Sue: „Die Geheimnisse von Paris“. dtv, 16,90 DM

Wilkie Collins: „Jezebels Tochter“. dtv, 16,90 DM

Roderick Anscombe: „Das geheime Leben des László Graf Dracula“. btb, 19 DM

Elizabeth von Arnim: „Jasminhof“. insel tb, 24,80 DM

Einar Kárason: „Die Teufelsinsel“. btb bei Goldmann, 15 DM