San Cayetano gibt Arbeit und Brot

Eine Million argentinische Arbeitslose pilgern zu einem Heiligenbildnis  ■ Aus Buenos Aires Frank Schmitt

Ich weiß mir keinen anderen Ausweg. Ich lege meine Hand auf die fingerverschmierte Glasvitrine. Ungelogen, mir geht's dreckig: Ich bin arm, ich bin arbeitslos, in zwei Monaten wird meine frischgeehelichte Frau Zwillinge in die Welt setzen. Mein Problem könnte gleichzeitig meine Erlösung sein: So wie mir, und noch hundertmal dreckiger, geht es vielen in Argentinien. Bar jeder Sozialhilfe, ohne Arbeitsamt, ohne Erziehungsgeld.

Ein Daumenabdruck von nachhaltiger Wirkung

Ich bin heute nicht alleine, ich stehe in einer riesigen Schlange, dicht zusammengedrängt mit, ungelogen, einer Million Menschen. Aber wir werden nicht den Aufstand proben, wir werden die Regierung nicht zu Fall bringen. Heute wollen wir nichts als den Heiligen San Cayetano sehen. Heute ist der 7. August. Uns bleibt nichts als dieser hölzerne Mann hinterm Glas, im überhellen Neonlicht. Nur er hört uns zu. Nur er verdient die Bezeichnung „Institution“. Er kann mehr als alle Behörden dieser Welt. Auch wenn sein milder, fast zuckersüßer Silberblick mich knapp links verfehlt, ich weiß, er hat mich im Visier. Auch wenn diese Innigkeit kaum mehr als vier Sekunden dauern mag, mein fettiger Daumenabdruck wird Bände sprechen, wird nachhaltig sein. Heute jährt sich sein 450. Todestag. Heiliger San Cayetano, Patron der Arbeiterschaft: Du, der du uns Arbeit und Brot versprichst. Mach, daß sich die taz meiner erbarmt! Mach, daß sie meine bescheidene Reportage abdruckt! Mach, daß noch viele Aufträge folgen mögen!

2.000 freiwillige Kirchenhelfer versorgen die dreißig Kilometer lange Menschenkette mit bitterem Matetee und Brot. Die Hubschrauber der TV-Sender verrenken sich in waghalsigen Flugmanövern, um mit einer einzigen Zoombewegung – so spektakulär wie nur möglich – die Menschenmenge vor der Kirche des Heiligen San Cayetano einzufangen.

Der Wallfahrtsort an sich ist fast lutheranisch bescheiden. Ein schmuckloses Kirchlein im westlichen Außenbezirk des Molochs Buenos Aires. Ein Mauerblümchen, versteckt zwischen der pfützenübersäten Tristesse eines Bus- Endbahnhofes und der verwahrlosten Metro-Station Liniers. Einige wellblecherne Warendepots stehen drumherum, nackter als die Winterbäume. Die chaotische Stadtautobahnzufahrt verstopft die Nebenstraßen, rußwolkenspuckende Verkehrsbusse im Kampf mit den mageren Pferden der Müllsammler. Allein die unzähligen Stundenhotels versprühen einen etwas barocken, wenn auch abbröckelnden Charme.

Vor den Pforten letzterer harren die schwächsten Glieder der Menschenkette aus: immer wieder bricht sie hier vor verschämt einlaßsuchenden Pärchen kurzzeitig auseinander. Die stärksten Glieder aber sind, wie so oft, gleich vorne auszumachen: die ersten drei Kilometer der Schlange haben sich schon vor Tagen gebildet. Ganze Familien trotzen schon seit Wochen in kleinen Campingzelten oder unter einfachsten Plastikplanen den sternenreichen, aber kalten Winternächten. Heute, an diesem Donnerstag, sind sie die Avantgarde derer, die ganz unbürokratisch an San Cayetanos Schalterglas vorbeiziehend – manche murmelnd, manche lallend, manche stumm – ihren Arbeitsvermittlungsantrag stellen werden.

Selbstverständlich habe ich mich bereits am frühen Morgen zu Nancy durchgemogelt; ihr Zelt steht kaum 200 Meter von den Kirchenpforten entfernt. Ein rasender Reporter, mag er noch so arbeitslos sein, kann keine 28 Stunden anstehen, um seinen Bericht nach Deutschland zu faxen. Nachrichten mögen weggehen wie warme Semmeln, essen kann man sie deshalb noch lange nicht. Nancy aber gab mir von ihrem Trockenkeks zu knabbern, dazu reichlich Mate und die absolute Gewißheit einer bequemen Startposition. Außerdem vertrieb sie mir die Ansteherei mit ihrer wahrlich wärmenden Lebensgeschichte.

Ich sage nur so viel: Nancy macht seit 24 Jahren dasselbe Ritual durch: Jahr für Jahr kehrt sie schon einen Monat vor dem fraglichen Augusttag das schwarze Brackwasser vom Gehweg, rammt ihre Zeltnägel zwischen die löchrigen Kacheln, legt ihren Kartonteppich aus und übt sich in gottergebener Hoffnung. San Cayetano kann alles! Sie war eine junge, unglückliche, arbeitslose und obendrein unverheiratete Frau, als sie das erstemal hier anstand. Wenn sich etwas Signifikantes in ihrem Lebenswandel ändern sollte, so schwor sie sich und dem Heiligen, würde sie hier jedes Jahr aufs neue einkehren. Und so geschah es: In der Schlange lernte sie ihren – immer noch treuen – Ehemann kennen; fand anschließend Arbeit (er ebenso); bekam Kinder (er ebenso), bat um deren Gesundheit, bekam sie; bat um Arbeit für die Kinder, bekam sie; bekam Enkel, bat um deren Gesundheit, bekam sie. Alles in allem: sie ist rundum glücklich.

Nur zu Jahresanfang verließ sie der Mut. Sie verlor ihre Arbeitsstelle, und einer ihrer Enkel starb. Kein Gebet half. Daß sie dennoch unter den Ersten ist, erklärt sie so: „Mir geht es schlecht, aber ich bin hier, weil ich denke, daß Gott mir eine Prüfung auferlegt hat. San Cayetano wird mir beistehen. Ich werde sein Bildnis berühren und ihm treu bleiben.“

Um die Situation in ihrer vollen Tragweite zu erfassen, schaltet Hugo, Nancys frierender Ehemann, das Radio ein: live und direkt vom Hubschrauber, zwischen dem Gedröhn der Propellerschwingen: „Unfaßbar ... mehr als letztes Jahr ... über eine Million ... aus allen Ecken des Landes ... geballte Hoffnung der Argentinier ... gebe zurück ins Studio ...“ Daß San Cayetano de facto Arbeitsplätze schafft, kann niemand bestreiten. Der informelle Sektor ringsherum um sein Heiligtum blüht. Ständchen mit dem geschnitzten Konterfei des Heiligen; Ständchen mit dem „Löffel des Überflusses“ (ein Plastikgeschirr beklebt mit Maiskörnern und getrockneten Hülsenfrüchten); Ständchen mit Schlüsselanhängern aus Plastikgelatine, in die das Bildnis des San Cayetano eingeschweißt wurde; Ständchen mit buntbemalten Wedelfächern mit sieben aufgenähten Plastikbrötchen, eins für jeden Wochentag; Ständchen mit Bittkerzen und Haustürinschriften. San Cayetano: Brot und Arbeit. Darf in keinem argentinischen Haushalt fehlen.

Zu tief sitzt die Krise: 18 Prozent Arbeitslosigkeit. Kein soziales Netz. Rentner, die auf dem Arbeitsmarkt wieder auferstanden sind, weil die Pensionskassen im unauffindbaren Nichts versackten. Eine bis zur Erbarmungslosigkeit korrupte Politikerkaste. Dollarpump und nichts als Pump und hopsasa ab in die Schuldenfalle. Armes Argentinien. Eine ganze Armee honigwabendrehender, schweißender und nähender Heimwerker bestreitet mit dieser Art der Heiligenhuldigung ihren Lebensunterhalt.

Wie, Sie sind ungläubig? Beweise gibt es genug

Doch San Cayetano ist anders als die anderen Heiligen. Sein Leitmotiv ist knochentrocken. Kein außerirdisches „Seid nett zueinander“. San Cayetano fordert „Arbeit und Brot“. Daß er lediglich einen Weizenhalm und die Bibel in der Hand hält – und nicht etwa Pickel, Hammer oder Kugelschreiber–, tut nichts zur Sache. Er ist einer von uns. Seine Popularität ist nicht nur damit zu erklären, daß seit 1875, als sein aus Italien vom Auswandererstrom mitgerissenes Bildnis hier eine neue Ruhestätte fand, er Ansprechpartner Nummer eins aller vom Faccere la America-Betrogenen ist.

Rubén Tardo, Vikar der Kirche, berichtet mir später aus dem Leben des Heiligen. San Cayetano hatte die durchaus revolutionäre Idee (wir schreiben das 16. Jahrhundert), eine Genossenschaftsbank zu gründen, bei der sich Arbeiter und Handwerker gleichermaßen zinslos bedienen sollten. Auf meine Frage, wieso, wenn San Cayetano Wunder vollbringen kann, hier immer noch eine Million Menschen ein Wunder nötig haben, entgegnet er analytisch: „Der Tag San Cayetanos ist ein Fest. Und je ärmer die Menschen, desto gewillter sind sie, zu feiern.“

Mag sein, daß wir ein von Italienern verabergläubischtes Hispaniervolk sind. Das erklärt noch gar nichts. San Cayetano tut was. Egal, wen ich in der Schlange frage, Unzählige legen Zeugnis ab. Zum Beispiel meine Ehefrau: Vor sechs Jahren stand sie da, ohne Arbeit. Vorbei an der Vitrine und schwups, schon am darauffolgenden Tag, beim ersten Vorstellungsgespräch: Anstellung in der Strumpffabrik. Noch heute liegt in ihrem olivgrünen Spindfach, unverdorben und nicht angebissen, jene Brotdevotionalie, die sie am 7. August 1991 vor den Kirchenpforten San Cayetanos für einen Peso erworben hatte.

Mehr Beweise? Gestern hat man 20 ihrer Arbeitskolleginnen entlassen. Auftragsmangel. Sie jedoch war nicht dabei. Kündigungsschutz für Zwillingsschwangere? Kein Deut. San Cayetano war's! Daß just vorgestern, als ich in ihre Krankenversicherung aufgenommen werden sollte, mir, wie übrigens jedem arbeitslosen Ehemann, der Zutritt verwehrt wurde, zählt nicht. San Cayetano wird's richten. Ja, mein Schatz, und die nächste Zahnlücke stopf' ich mir mit einem zerknüllten Heiligenbildchen.

Überzeugen Sie sich selbst!

Kaum mehr als drei Sekunden bleiben mir vor der Vitrine – zu kurz, um ein Gebet hervorzukramen, zu lang, um nicht einen Funken Hoffnung zu wagen – dann drängelt mich die Masse in das Kircheninnere. Meine Finger gleiten über das Glas. Doch sagt, ihr Ungläubigen: Ist es noch nicht der Beweise genug? Wie könnt ihr an San Cayetano zweifeln, wenn ihr es doch Schwarz auf Weiß vor Augen habt? Wer sehen kann, der lese: „Aus Buenos Aires Frank Schmitt“ steht fett in der Überschrift auf dieser Seite. Selbst das laizistische Bollwerk der taz ist kein Hindernis für den Heiligen San Cayetano! Mag die Entlohnung noch so dürftig sein, die an die Nabelschnur meiner Ehefrau angekoppelten Bengel werden trotzdem jubeln. Heute kommt bestes Rindersteak auf den Tisch. Euer Arbeitsminister sollte sich ein Scheibchen davon abschneiden.