Denn sie wußten, was sie taten

Die Prozesse um die Toten an der Berliner Mauer haben eine ganz besondere Bedeutung: Sie zeigen, daß es individuelle und zurechenbare Schuld gibt  ■ Von Wolfgang Templin

Jedes Jahr am 13. August wird der Ermordeten und Verstümmelten an der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze gedacht. Zum Ende des Monats August 1997 wurden ehemalige „höchste Repräsentanten“ der DDR zu Freiheitsstrafen verurteilt. Es sind ehemalige Mitglieder des Politbüros der SED, von dem jeder normale Mensch in der DDR wußte, daß dort die eigentlichen Entscheidungen getroffen wurden, nicht im Ministerrat oder etwa in der Volkskammer, dem Schattenparlament.

Bei dem Prozeß ging es nicht darum, die untergegangene DDR abzustrafen und Rache für das kommunistische Aufbauwerk zu nehmen, wie das vor allem Egon Krenz immer wieder suggerierte. Vielmehr hatte ein unabhängiges Gericht die Frage ihrer individuellen Verantwortung und Mitschuld für die Mauertoten zu prüfen. In der Urteilsbegründung wurde diese Verantwortung und Mitschuld bestätigt.

Gerade deshalb war der gestrige Tag ein wichtiger Tag für die Opfer und für die Öffentlichkeit. Er steht für das Bemühen eines demokratischen Rechtsstaates, vor dem Erbe einer Diktatur nicht nur einfach zu kapitulieren. Es war kein Tag des Jubels und der Rachegefühle.

Die bisherigen Versuche der juristischen Auseinandersetzung mit dem DDR-Unrecht waren eher dazu angetan, den Unwillen und Zorn der Opfer und Betroffenen wachzurufen. Oft ließen sie eine kopfschüttelnde Öffentlichkeit zurück. Von vielen bundesdeutschen Politikern und Juristen wurde diese Aufgabe schlichtweg ignoriert und zurückgewiesen. Die deutsch-deutsche Vereinigung, die blühenden Landschaften, der Institutionen- und Geldtransfer sollten durch eine derartige Drecksarbeit nicht belastet werden. Schließlich war die Auseinandersetzung mit dem Erbe der NS-Diktatur auch nur zögernd und inskonsequent angelaufen.

Aber auch diejenigen, die bereit waren, sich der strafrechtlichen Aufgabe zu stellen, hatten ungeheure Probleme damit. Im Einigungsvertrag und in folgenden Grundsatzentscheidungen des Bundesgerichtshofes wurde der Rahmen für die Auseinandersetzung sehr eng gezogen. Nur die Strafbarkeit nach DDR-Gesetzen sollte und durfte zugrunde gelegt werden, wobei auch noch auf das Gesetzesverständnis und die Auslegungspraxis zu DDR-Zeiten einzugehen war.

Rückwirkungsverbot und Vertrauensschutz, wichtige Instrumente für den Schutz des Bürgers im Rechtsstaat, wurden in der Auseinandersetzung mit den Tätern und Helfershelfern einer Diktatur, die sich ihre eigenen Gesetze schuf, mehr und mehr zu Fallstricken, die letztlich dem Täterschutz dienten. Mit der Unterscheidung zwischen einfachem Unrecht und Exzeßunrecht gingen rechtsbeugende Richter, mandantenverratende Rechtsanwälte und „normale“ Systemdiener ihren Freisprüchen entgegen.

Neue Diskussionen über die DDR

Aus all diesen Gründen kam den Prozessen um die Schüsse an der Mauer ganz besondere Bedeutung zu. Alle entscheidenden Fragen in der politischen, moralischen und juristischen Auseinandersetzung mit dem Diktaturerbe der DDR wurden hier wie in einem Focus noch einmal sichtbar. Erneut wurde über Schuld und Verantwortung in der DDR diskutiert. War die DDR als Staat und waren ihre politischen Vertreter lediglich ein Anhängsel der Sowjetunion? Waren hier vielleicht nur verschiedene Stufen von Opfern, aber überhaupt keine Täter zu finden? Gab es für den einzelnen Grenzsoldaten die Möglichkeit, den Schießbefehl zu verweigern oder zu mißachten? Wieviel war im Politbüro über die Toten und Verstümmelten, über die Minensperren und all die anderen „Grenzschutzanlagen“ bekannt? Was wurde davon diskutiert, und gab es wirklich keine Möglichkeit der Veränderung?

Die Prozesse zogen sich jahrelang hin und gingen die Befehlskette aufwärts, von den Soldaten zu den Offizieren der Grenztruppen, bis hin zu den Mitgliedern des Nationalen Verteidigungsrates. Die Urteile waren differenziert und abgestuft und wurden von vielen als zu milde empfunden. Eines rückten diese Prozesse aber unzweideutig ins Licht: An der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze standen keine Instrumente und willenlosen Werkzeuge. Befehlsempfänger und Befehlsgeber konnten die Möglichkeiten ihrer Taten übersehen und sich entsprechend dazu verhalten. Schuld- und Unrechtsbewußtsein gab es in Ansätzen. Es gab in allen Gliedern dieser Befehlskette individuelle und zurechenbare Schuld.

Darum und nur darum ging und geht es auch jetzt, in dem Prozeß gegen Krenz, Schabowski und Kleiber. Dies zeigt nicht zuletzt das unterschiedliche politische Auftreten der Angeklagten. Während Schabowski und Kleiber ihr Schuldbewußtsein ausdrückten und sich auf partielles Nichtwissen zurückzogen, kehrte Krenz den unbelehrbaren kommunistischen Funktionär heraus und bot seiner Fangemeinde, aber auch seinen Gegnern damit bis zum letzten Tag ein eindrucksvolles Schauspiel. Gerade seine Rolle in der DDR, vom Strahlemann der FDJ-Führung über den Juniorpartner im Politbüro bis zum vorletzten Repräsentanten der DDR, lassen ihn im Vordergrund stehen. Wie er das Blutbad auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens begrüßte macht ihn unvergessen.

Nach den Strafanträgen der Staatsanwaltschaft war ein Raunen durch die Öffentlichkeit gegangen. Mit den jetzigen Urteilen blieb das Gericht so einschneidend unter den Strafanträgen, daß Krenz und Genossen eigentlich aufatmen müßten. Sie sind mehr als gut weggekommen, aber das wird Egon Krenz und seine Anhänger nicht daran hindern, weiter von Rachefeldzügen zu sprechen. Die Auseinandersetzung mit dem Erbe der DDR ist noch lange nicht abgeschlossen.

Wolfgang Templin ist freischaffender Publizist