Die Frage nach der gerechten Herrschaft

Freiheit ohne Bildung ist gefährlich: Der Politologe und Soziologe Siegfried Landshut wird wiederentdeckt. Er wollte die Politik als intellektuelles Programm vor der Gesellschaft einerseits und vor dem Staat andererseits retten  ■ Von Karin Wieland

Er war in diesem Jahrhundert der erste Wissenschaftler, der in Deutschland seine Zulassung zur Habilitation im Fach „Politik“ einreichte. Das war 1928 in Hamburg, und Politik wurde zu diesem Zeitpunkt an keiner deutschen Universität gelehrt. Doch Siegfried Landshut war Jude, und so war seinem Bemühen um Aufnahme in die edle deutsche Professorenschar kein Erfolg beschieden.

Die Rückkehr der Anthropologie am Ende dieses Jahrhunderts führt dazu, daß seine 1929 unter „Die Kritik der Soziologie“ veröffentlichte und abgelehnte Habilitationsschrift jetzt erneut mit großer Aufmerksamkeit gelesen wird. Landshut warnt darin vor einer Sozialwissenschaft, die die Wirklichkeit zum „bloßen Rohstoff für Abstraktionen“ degradiert, und er warnt vor dem Verlust der wissenschaftlichen Fragestellung, die immer nur der Problematik der Wirklichkeit selbst entspringen kann.

Siegfried Landshut beschäftigte sich sein Leben lang mit den Fragen nach der gerechten Herrschaft, nach der besten politischen Ordnung und nach dem rechten Leben; klassische Fragen der Politik, die sich nur in Zusammenhang mit der Frage nach der Natur des Menschen lösen lassen.

Der Historiker Rainer Nicolaysen hat nun eine Biographie über diesen nahezu vergessenen Klassiker der deutschen Politikwissenschaft geschrieben. Im Mittelpunkt steht der Wissenschaftler und dessen Lebensthema, nämlich die „Wiederentdeckung der Politik“ als praktische Wissenschaft, die sich um das „summum bonum“, um das Glück der Menschen zu kümmern hat.

Siegfried Landshut wurde 1897 in Straßburg als Sohn eines Architekten geboren. Der Vater sorgte für die humanistische Bildung, der Sohn zog die deutsche der französischen Kultur vor und meldete sich zwei Tage nach Kriegsausbruch als Freiwilliger beim Deutschen Heer. Landshut verbrachte seine Jugend im Krieg, er kam erst 1919 von seinem Einsatz im Nahen Osten nach Deutschland zurück. Beeindruckt „von der Fraglichkeit der neuen Lebenssituation“, wie er rückblickend schrieb, begann er in Freiburg mit dem Studium der Nationalökonomie. Siegfried Landshut war vier Jahre lang Soldat im Krieg gewesen, und er absolvierte sein Studium in der Hälfte der normalen Zeit. 1929 schloß er es mit der Promotion ab. Damit hatte er zwar eine Neudefinition seiner Existenz im Frieden erreicht, doch das Gefühl der Verlorenheit in der modernen Welt blieb.

Wilhelm Hennis hat im Zusammenhang mit dem wissenschaftlichen Werk von Landshut angeregt, der Frage nachzugehen, welche Rolle das Kriegserlebnis der „lost generation“ nicht nur im künstlerischen, sondern auch im wissenschaftlichen Bereich gehabt habe. Ganz sicher kann Landshuts Hinwendung zur Philosophie, genauer gesagt zu Heidegger, nur vor diesem Hintergrund gesehen werden. Leider geht Nicolaysen weder dem Zusammenhang von Kriegserlebnis und dessen Niederschlag im wissenschaftlichem Werk nach, noch widmet er der Rolle Heideggers, des „heimlichen Königs des Denkens“ (Arendt), genügend Aufmerksamkeit.

Hans-Georg Gadamer und Hannah Arendt haben übereinstimmend berichtet, daß die Seminare Heideggers zu Beginn der 20er Jahre wie eine erschütternde Offenbarung gewirkt hätten. Man kann vermuten, daß Heidegger für Landshut den gleichen „Einbruch und Umbruch“ bedeutete, wie Gadamer es beschreibt. Es waren, wie George Steiner so brillant nachgewiesen hat, Heideggers „Sprechakte revolutionärster Art“, die die jungen Studenten begeisterten. In der Sprache vollzog der Philosoph radikal den Bruch mit der Zeit vor 1914. In Landshuts Habilitationsgutachten findet sich der Hinweis auf seine „orthodox heideggersche Schreibweise und Gedankenführung“.

Landshut folgt Martin Heidegger nach Marburg. Dort besucht er auch dessen intim gehaltene Seminare, zu deren Teilnahme einen einzig „die Leidenschaft des echten Fragens“ berechtigte. Er beginnt sich mit der Tradition des politischen Denkens bei Aristoteles zu beschäftigen. Den Bruch mit dessen Lehre macht er in der Neuzeit aus. „Der einheitliche Lebensbereich, der bisher mit dem Begriff der Politik angezeigt wurde, wird jetzt in zwei Bereiche aufgeteilt: die Gesellschaft, d. h. das freie und an sich ungeordete Miteinander isolierter Einzelner einerseits, und der Staat, d. h. das System der das Verhalten der Individuen regelnden Gesetze andererseits. Mit dieser Zweiteilung beginnt auch die früher einheitliche Politik in mehrere Wissenschaften auseinanderzufallen: die Ökonomie und Soziologie einerseits, das juristische Staatsrecht andererseits. Das Wort Politik selbst hört auf, eine Wissenschaft zu bezeichnen.“ Damit hat er sein intellektuelles Programm umrissen: Landshut will die Politik vor der Gesellschaft und vor dem Staat retten.

Seine Studien setzt er als Assistent an der Hamburger Universität fort. Daß seine Habilitation abgelehnt wird, ist für den Vater von mittlerweile drei Kindern eine persönliche und berufliche Katastrophe. 1932 bringt er die teilweise noch unveröffentlichten Frühschriften von Karl Marx heraus. Ungebrochen in seinem wissenschaftlichen Elan verfolgte Landshut nichts weniger als eine Neudefinition des Marxschen Werks. Er war kein Marxist, doch ein Bewunderer des Philosophen Marx. „Wie kaum ein anderer hatte Marx die Grundproblematik der modernen Lebenssituation erfaßt und im Begriff der Selbstentfremdung auf den Punkt gebracht.“

Neun Tage vor der Vereidigung Hitlers als Reichskanzler reichte Landshut erneut eine Habilitationsschrift ein. Dieses Mal jedoch in Nationalökonomie, um den neidischen und antisemitischen Kollegen auf dem Soziologie-Lehrstuhl zu umgehen. Am 7. April 1933 trat das „Gesetz zur Wiederherstellung des Beamtentums“ in Kraft, und es begann die Vertreibung nichtarischer und politisch unliebsamer Wissenschaftler. Die Darstellung, wie lapidar die Gleichschaltung an der Hamburger Universität vor sich ging und wie ebenso lapidar zwölf Jahre später die „Demokratisierung“ bekanntgegeben wurde, gehört zu den Glanzkapiteln des Buches. Nicolaysen gelingt es ganz ausgezeichnet, das Gespinst aus Mißgunst, Kleingeisterei, Ehrgeiz und Antisemitismus, das die deutschen Professoren umgab, nachzuzeichnen. Landshut wurde mitgeteilt, „mit Rücksicht auf die veränderten Verhältnisse“ sehe man von einer „Weiterverfolgung dieser Habilitationsangelegenheit“ ab. Die von ihm bereits bezahlte erste Rate der Habilitationsgebühr wurde ihm ordnungsgemäß zurücküberwiesen.

Sein Exil führte ihn über Ägypten nach Israel. Er mußte um Gutachten bangen, Projekte entwerfen, ein paar Pfund erbetteln und um die Gesundheit seiner tuberkulosekranken Frau fürchten. Auch in seinem Hauptwerk der Exilzeit „Die Gemeinschaftssiedlung in Palästina“ blieb er seiner Frage nach dem Zusammenhalt und der geistigen Idee von Gemeinschaften treu. 1945 unterrichtete er deutsche Kriegsgefangene in Ägypten in Demokratie, und 1951 wurde er auf den neugegründeten Lehrstuhl für die Wissenschaft von der Politik in Hamburg berufen. Wie bereits 1928 warnte er auch 1948 vor dem Niedergang der Politischen Theorie und dem Aufstieg der puren Empirie.

Die richtigen Fragen und nicht die richtigen Ergebnisse schienen ihm in der Wissenschaft wichtiger denn je. Während er sich mit dem Beschweigen der Vergangenheit durch seine Professorenkollegen arrangieren konnte, litt er unter der Studentenrevolte von 1968. Er fühlte sich durch die studentischen Aktionen an die Zeit seiner Vertreibung durch die Nazis erinnert.

Kurz vor seinem Tod im Dezember 1968 verteidigte Landshut ein letztes Mal den Ort des Geistes gegen die Gesellschaft. „Die Freiheit, die die Studenten so lärmend für sich in Anspruch nehmen, ist für die Hochschule zuerst und zunächst die Freiheit der Forschung und der Lehre. Wenn sie bedroht ist, dann insbesondere durch die Interessen und Forderungen derjenigen Studenten, denen weniger an der Forschung als daran gelegen ist, überall mitzureden. Freiheit ist vor allem eine Sache der Bildung – ungebildete Freiheit ist das Gefährlichste.“ Das Unbehagen an der Moderne – Landshut spürte es in den 60er Jahren genauso wie in den 20ern. In den 90er Jahren ist sein Werk aktueller denn je.

Rainer Nicolaysen: „Siegfried Landshut. Die Wiederentdeckung der Politik“. Jüdischer Verlag, Frankfurt/Main, 628 S., 68 Mark