„Literatur soll ja keine Diskurse abbilden“

Deutscher Herbst und autonome Szene in den 90ern. In den neuen Romanen von Michael Wildenhain und Raul Zelik sind die Protagonisten nur Randfiguren politischer Aktion. Ein Gespräch mit den Autoren über Literatur und politische Milieus  ■ moderiert von Klaus Farin

taz: Michael, dein Buch „Erste Liebe Deutscher Herbst“ spielt in den 70er Jahren. Warum diese Rückwendung in die Vergangenheit?

Wildenhain: Zum einen gibt es natürlich im Moment eine besondere Aufmerksamkeit für das Jahr 1977. Bei der derzeit extrem schlechten Konjunktur für politische Literatur ist es erfreulich, wenn durch die Jubiläumsdramaturgie plötzlich geballte Aufmerksamkeit auf so ein Thema gelenkt wird. Was ich erzähle, läßt sich aber ohne weiteres in die heutige Zeit übertragen. Die beiläufige oder naive Politisierung, die über Gruppenzusammenhänge und persönliche Beziehungen läuft, spielt nach wie vor eine wichtige Rolle.

taz: Die Zeiten für politische Literatur sind schlecht. Woran macht sich das für dich fest?

Wildenhain: Es gibt kein politisches Subjekt auf der Linken, keine politische Kraft, auf die man sich beziehen könnte.

Zelik: Das sehe ich anders. Es gibt ja noch viele Strukturen, auf die zurückgegriffen wird, sowohl Diskussionsorgane als auch wirkliche Bereiche von Solidarität. Als Autor interessiert mich allerdings die explizit politische Literatur nicht sehr. Mir geht es um Leute, die in Sub- oder Jugendkulturen Aufbrüche erleben, um ihre Geschichten und Erfahrungen. Wo finden soziale Prozesse statt, die Verhärtungen auflösen? Wo fangen Leute an, sich auszudrücken und ihre Geschicke kultureller oder politischer oder sozialer Art selber in die Hand zu nehmen? Ohne das jetzt bewerten zu wollen, gibt es Versatzstücke davon in der HipHop-Bewegung. Die Tatsache, daß sich Leute eigene Kunstformen erschließen, halte ich emanzipatorisch für wichtig.

In meinem Buch erzähle ich die Geschichte von einem Jugendlichen aus Kreuzberg. Es geht um ein Milieu, in dem es Rassismus gibt, relativ wenig klare Lebens- oder Berufsperspektiven und eine Jugendkultur, in der Musik und Basketball eine große Rolle spielen. Der Ich-Erzähler ist eben kein Linker, zumindest nicht das, was wir so als Diskurs-Linke bezeichnen. Er lebt in dieser Kultur, und für ihn ist klar, daß Nazis Arschlöcher sind.

taz: Die politische Linke kommt hauptsächlich in Form von Solidaritätsgruppen vor. Das heißt, eigentlich als Lachnummer.

Zelik: Aber ich zähle mich zu solchen Solidaritätsgruppen durchaus dazu. Das ist keine Kritik an anderen Leuten. Ich wollte zeigen, wie das jemand sieht, der da nicht drinsteckt. Das ist eine authentische Erfahrung. Es gab viele Leute, die sich darüber wunderten, was für Diskussionen wir innerhalb von solchen Unterstützerkreisen führten.

taz: Eine Schwäche des Buches besteht darin, daß es die Konspiration der Szene literarisch fortsetzt, so daß man nichts Persönliches über andere Figuren erfährt.

Zelik: Beim Kaindl-Fall als konkretem Vorbild waren bei einer Aktion Leute dabei, die sich kaum kannten. So kann auch der Erzähler viele Sachen nicht richtig nachvollziehen. Er wird zu Leuten geschickt, die er nie zuvor gesehen hat. Das ist eine reale Erfahrung in solchen Fällen. Du mußt dich auf Leute verlassen, die du nur flüchtig kennenlernst. Auf der Flucht wirst du von einer Adresse an die andere weitergegeben. Das erfordert viel Vertrauen. Ich habe das sehr authentisch gehalten.

Wildenhain: Häufig vermischt sich aber die literarische Ebene mit dem, was du „authentisch“ nennst. Dadurch bekommt die ganze Flucht etwas Abgehoben-Existentielles. Da könnte auch jemand fliehen, der zufällig bei einem Banküberfall mitgewirbelt hat.

Zelik: Das ist Absicht. Es geht mir nicht darum, zu beschreiben, wie sich eine Antifa-Gruppe verhält, sondern um ein soziales und kulturelles Milieu, von dem wir ganz wenig blicken.

Wildenhain: Über das Milieu würde man aber mehr erfahren, wenn die Personen besser charakterisiert wären. Das hat nichts zu tun mit einem Insistieren darauf, daß da eine Antifa-Linke dargestellt werden soll oder ein intellektueller politischer Diskurs. Es kann ja nicht die Forderung an Literatur sein, intellektuelle Diskurse abzubilden. Ich finde es gut – und das ist ja auch eine Parallele zu meinem Buch –, wenn jemand politisch relativ unbedarft ist, weil das literarisch eine dankbare Perspektive abgibt, aufgrund des Staunens, wenn man in bestimmte Situationen gestellt wird.

Zelik: Der Titel deines Buches „Erste Liebe Deutscher Herbst“ läßt allerdings vermuten, daß der politische Hintergrund eine größere Rolle spielt. Er taucht aber nur am Rande auf.

Wildenhain: So habe ich das damals wahrgenommen. Heute wird behauptet, das wesentliche Ereignis der späten siebziger Jahre sei die Schleyer-Entführung gewesen. Das glaube ich nicht. Ich glaube, daß viel mehr Leute in der Anti- AKW-Bewegung beteiligt waren. Für die war die Schleyer-Geschichte nur insofern spürbar, als die Repressionen, zum Beispiel bei der Kalkar-Demonstration im Sommer 77, sich vor diesem Hintergrund verstehen ließen. Ich bin im Herbst 77 an die Uni gegangen. Da lagen in der TU-Mensa meterhoch die Flugblätter. Aber sie setzten sich zum größten Teil nicht mit Schleyer auseinander. Meine ersten politischen Bilder an der Uni waren geprägt von KBWlern, die sich in der Mensa mit KPDlern prügelten. Oder von Pro- und Anti-Schah-Iranern, die sich gegenseitig über den Campus jagten. Das war für mich völlig rätselhaft und erschien mir beinahe folkloristisch.

Zelik: Mir sind von damals noch Bilder von Bullen mit Maschinenpistolen an allen Ecken in Erinnerung geblieben. Na ja, ich komme aus Bayern...

Wildenhain: Natürlich gab es auch in Berlin so etwas. Der Verkehr lag wegen irgendwelcher Durchsuchungen lahm. Aber als Unbedarfter hast du dir gesagt: „Nun gut, manchmal sperren sie halt eine Brücke, und dann kommt man nicht rüber.“ Die Dimension hat das erst im nachhinein gewonnen. Für mich wurde diese Auseinandersetzung mit der RAF erst in dem Moment sinnlich erfahrbar, als ich als Autor zum Rotbuch Verlag kam. Dort wirkte die Generation, die eine traumatisierende Erfahrung gemacht hatte. Die dachten wirklich, jetzt kommen chilenische Verhältnisse.

taz: Die Angst vor staatlichen Repressionen scheint seitdem eher gewachsen. Habt ihr schon mal versucht, mit Antifa-Aktivisten am Telefon über mehr als das Wetter zu diskutieren?

Zelik: Das ist doch nicht von der Hand zu weisen, daß ein unglaublicher Aufwand betrieben wird, polizeilich zu überwachen.

Wildenhain: Teilweise hat es damit zu tun, wie enorm wichtig man sich nimmt, aber es ist auch eine Berufskrankheit. Wenn Leute längere Zeit politisch aktiv sind, wird es immer mehr zum Verhaltenskodex. Aus meiner Erfahrung war das in den Anfängen der Hausbesetzerbewegung nicht so. Dann tauchten irgendwann die „Anti- imperialisten“ auf und verteilten aus Plastiktüten Entlarvungsflugblätter darüber, welche Institutionen alle vom CIA unterwandert seien. Anfangs mußten wir immer ein bißchen lachen, aber mit der Zeit hat man sich das zu eigen gemacht.

Zelik: Manches ist nur Gestik, anderes aber auch sinnvoll. Am Telefon politische Diskussionen zu führen finde ich auch nicht richtig, weil es keinen Grund gibt, mein Leben und meine Aktivitäten einem Staat gegenüber auszubreiten, gegen den ich ein berechtigtes und gesundes Mißtrauen habe. Andererseits sind gerade in den letzten Jahren viele politische Gruppen offener geworden und stärker darum bemüht, Ansprechpartner zu sein, Bürozeiten und offene Läden zu haben.

taz: Autoren sind für jede Szene ein Risikofaktor. Ein literarisches Werk ist eine individuelle Leistung, und da kommt schnell der Profilierungsvorwurf. Außerdem wird kritische Darstellung der eigenen Szene leicht als „Entsolidarisierung“ wahrgenommen.

Zelik: Klar reagieren die Leute, die näher dran sind, kritischer. Damit kann ich leben. Ich habe aber die Hoffnung, nicht völlig verrissen zu werden, sondern schon ein bißchen sachlicher.

Wildenhain: Die Kritik aus der Szene, die auf mich niedergegangen ist, war oft heftig. Zu Anfang hatte ich einen hohen Anspruch an Authentizität, und damit letztlich an so etwas wie „Wahrheit“. Mittlerweile glaube ich, daß Literatur so etwas nicht mehr leisten kann. Selbst wenn sie authentisch sein will, ist sie immer konstruiert. Für mich war es lange Zeit ein hohes Bestreben, so etwas wie einen kollektiven Protagonisten zu schaffen. Das ist im Roman sehr schwer. Ich habe verschiedene Versuche gemacht, die alle an Grenzen gestoßen sind. Ich glaube mittlerweile, daß eine Literatur, die an einen historischen Kontext gebunden ist, so etwas braucht wie eine politische Situation, in der es auch die entsprechenden Handelnden gibt. Mit meinem Roman „Die kalte Haut der Stadt“ bin ich an diese Grenze gestoßen. Danach habe ich mich in eine andere Richtung bewegt.