Pillen für Staat und Sieg

■ Schwimmtrainer der DDR sollen Minderjährige ohne deren Wissen gedopt haben. Jetzt wird gegen sie Anklage erhoben Aus Berlin Nicol Ljubic

Pillen für Staat und Sieg

Es war eine Sisyphusarbeit. Kistenweise Unterlagen und Hunderte von Zeugenbefragungen hatte der Berliner Staatsanwalt Rüdiger Hillebrand „wie ein Puzzlespiel“ zusammengesetzt, bis die Anklagen in dieser Woche stichfest waren. Adressiert wurden sie an die Schwimmtrainer Dieter Lindemann und Volker Frischke. Damit ist es offiziell: Die Trainer sind wegen Körperverletzung angeklagt. Ihnen wird vorgeworfen, daß sie in der DDR Minderjährige ohne deren Wissen gedopt haben.

Lindemann, ehemaliger Trainer von Franziska van Almsick, und Frischke, Extrainer der Brustschwimmerin Sylvia Gerasch, sind die ersten, aber nicht die einzigen Angeklagten. Gegen elf weitere Schwimmtrainer hat Hillebrand Ermittlungen eingeleitet. Damit wird weltweit zum ersten Mal das systematische Doping strafrechtlich verfolgt. Nach den Prozessen gegen Rechtsbeuger und Todesschützen sollen die Dopingprozesse die letzten großen Verfahren gegen DDR-Funktionäre sein.

Den Beschuldigten muß Körperverletzung nachgewiesen werden, weil Doping an sich nicht strafbar ist. Insgesamt ist die Rede von rund 60 Beschuldigten, 300 Opfern und auch vier Todesfällen. Einer davon ist der Magdeburger Schwimmer Jörg Sievers, der 1973 mit einem Trainingsanzug bekleidet tot am Beckengrund der Elbe- Schwimmhalle entdeckt wurde – da war er gerade 16 Jahre alt. Offiziell hieß es, er sei an Grippe gestorben. Seine Eltern aber meinen, der Tod sei die Folge von regelmäßigem Anabolikakonsum gewesen. Sie haben schwere Vorwürfe gegen den Leipziger Sportarzt Eberhard Köhler erhoben.

„Trainer und Ärzte sind die einen“, sagt Michael Havemann, Inspektionsleiter der Zentralen Ermittlungsstelle Regierungs- und Vereinigungskriminalität (Zerv), „das Ziel aber ist es die politische Führung anzuklagen.“ Funktionäre wie den obersten Verbandschef Manfred Ewald oder den Staatssekretär Günter Erbach.

Das Dopen war in der DDR Staatssache und hatte System. Bereits im Februar 1991 berichtete der Spiegel von geheimen Protokollen zu einem „Staatsplan 14.25“. Demnach haben renommierte DDR-Wissenschaftler mit staatlicher Unterstützung Doping- mittel entwickelt. Die Berliner Humboldt-Universität war ebenso beteiligt wie die Leipziger Karl- Marx-Universität und das Institut für Wirkstofforschung der Akademie der Wissenschaften in Berlin. Allein zwischen 1984 und 1988 wurden 21 Dopingprojekte betrieben, die DDR finanzierte die Forschung mit rund fünf Millionen Mark pro Jahr. Und ohne Stasi lief auch im Doping nichts. Im Februar dieses Jahres wurde berichtet, daß Bernd Henneberg, ehemals Trainer von Kristin Otto, Stasi-Mitarbeiter war. „Die Stasi wußte alles über den DDR-Sport. Sie hat mit einem Heer von Mitarbeitern alle Dopingoperationen abgedeckt“, sagte Hans-Jörg Geiger, stellvertretender Leiter der Gauck- Behörde.

Den ganzen Fall brachte Werner Franke, Molekularbiologe in Heidelberg, ins Rollen. Nachdem er an DDR-Akten kam, stellte er 1991 Anzeige wegen Körperverletzung und löste damit die Ermittlung aus. Damals ahnten die 60 Beamten der Zerv nicht, wie schwierig es werden sollte, belastendes Material zu bekommen. Die Sportfunktionäre hatten rechtzeitig Unterlagen vernichtet, viele Sportler wollten nicht aussagen, weil sie Angst hatten, sozial ausgegrenzt zu werden, ihre Medaillen zu verlieren. So werteten die Beamten viele Aussagen als reinen Selbstschutz. Der Kraulspezialist Steffen Zesner gab zu Protokoll, er habe blaue Pillen bekommen. Statt sie zu schlucken, habe er sie gesammelt und dem Trainer zurückgegeben. Gerasch erzählte, viele Sportler hätten die Präparate im Trainerzimmer in ein Aquarium geworfen, woraufhin die Fischweibchen bunter geworden seien. Und die sechsfache Olympiasiegerin Kerstin Otto, die als Sportreporterin beim ZDF arbeitet, hat bislang hartnäckig abgestritten, jemals gedopt worden zu sein. Auch wenn sie in Zerv-Akten als Anabolikakonsumentin aufgeführt ist.

Die Beamten versuchten es mit Aufrufen in Medien, verschickten Fragebögen an Sportler und sammelten so mühsam Informationen. Im Mai letzten Jahres hatte die Staatsanwaltschaft Berlin an über 50 Orten Hausdurchsuchungen eingeleitet, bei über 30 Sportfunktionären, Ärzten und Wissenschaftlern der DDR.

Die sogenannten Blauen, Oral- Turinabol-Pillen, mußten die Schwimmer regelmäßig vor großen Wettkämpfen schlucken. „Die sind gut für die Zähne“, soll Lindemann einem Schützling gesagt haben. Volker Frischke habe ihnen ab dem 13.Lebensjahr die Tabletten verabreicht, sagten drei Schwimmerinnen aus. Besonders auf Frauen wirken die Männerhormone schädigend. Nebenwirkungen waren oft eine tiefe Stimme und extreme Körperbehaarung.

Besonders brisant sind die Dopinganklagen für den Deutschen Schwimm-Verband (DSV). Bei ihm arbeiten bis heute Trainer, deren Doping- und Stasi-Verstrickungen aktenkundig sind. Als der Schwimm-Verband während der Europameisterschaft in Sevilla mit den Ermittlungen konfrontiert wurde, gab es erhebliche Spannungen in der deutschen Mannschaft: Opfer und Täter waren wieder im selben Team. DSV-Präsident Rüdiger Tretow hatte sich hinter die Trainer gestellt, ihnen die Suspendierung nur für den Fall angedroht, daß sie angeklagt werden. Jetzt, nach der Anklage gegen Lindemann und Frischke, sagte Rüdiger Tretow, sei er froh, „daß wir endlich Klarheit haben“. Nachdem er Einsicht in die 150seitige Anklageschrift nahm, sagte er, der DSV sei von den Trainern an der Nase herumgeführt worden. Beide hätten vorher Erklärungen unterschrieben, wonach sie nie mit Doping zu tun gehabt hätten. „Mir ist aber auch klar“, sagte Tretow, „daß das bezogen auf den gesamten deutschen Sport nur die Spitze eines Eisberges ist.“

Auch für die Ermittlungen der Zerv ist kein Ende in Sicht. Den Beamten sind jetzt schon über 1.000 Fälle bekannt, in denen DDR-Sportler durch Doping gesundheitliche Schäden davontrugen. Inzwischen haben Havemanns Beamte begonnen, im Leichtathletik-Bereich zu ermitteln. Dann sind die Ruderer, Kanuten und Turner dran. Lediglich bei den Seglern, so Inspektionsleiter Havemann, könne er Doping ausschließen.