Ausgedehnte Wanderungen

■ Wie sich der Münchner Theatermacher Alexeij Sagerer in einem Metallquader einschloß und eine Weltreise in 28 Stunden simulierte. Mein Wochenende mit dem Alpenindianer: Ein Protokoll

Juni 1997:

Bei den Medientagen im Münchner Marstalltheater stellt ein eher unauffälliger Mann mit langen, grauen Haaren folgendes Performanceprojekt vor: 7 Schafe und 14 Menschen sollen für 28 Stunden in einem riesigen Kubus zusammengesperrt werden, um darin „den größten Film aller Zeiten“ zu drehen. Das Bildmaterial liefern die „Expeditionsteilnehmer“ (SchauspielerInnen, Musiker, Film- und Computercrew und das liebe Vieh) und die Internetseiten von „7 Kontinenten“ (Asien, Australien, Indien, Antarktis, Afrika, Nordamerika, Südamerika), die jeweils für vier Stunden aufgerufen werden. Der Film wird auf eine Leinwand draußen projiziert, wo dem Publikum zudem im gleichen Rhythmus 7 Performances geboten werden. Angebot zum tieferen Sinn: „Theater ist das, was zwischen allem ist und damit auch in allem ist. Es bezieht auch noch das Beliebigste aufeinander.“ Irgendwelche Fragen?

Wer ist denn der überhaupt? „Ein Alpenindianer“, meint meine Freundin Meike, eine Theatersemiotikerin, von der ich nüchterne Urteile gewohnt bin. Sein nom de guerre lautet Alexeij Sagerer. Vor 28 Jahren begann der gebürtige Niederbayer mit seinem Ensemble „proT“ in München unmittelbares Theater im Sinne des französischen Visionärs Antonin Artaud zu zelebrieren. Dabei vergleicht er sich mit einer „Wildsau“, die „ihr Sausein austrägt“. Schweine und Schafe sind ihm seit Jahren liebe Spielkameraden.

Eine Wildsau, die ihr Sausein austrägt

Wie es sich für Nomaden gehört, hegt proT zudem eine Vorliebe für ausgedehnte Wanderungen durch eine Landschaft, in der sich reale und virtuelle Topographien vermischen. Vor zwei Jahren bereiste Sagerer sieben Orte, an denen Hitlers Wehrmacht umkehren mußte, um Aufnahmen für sein „Nibelungen & Deutschlandprojekt“ zu machen. Es wurde beim Münchner Performancefestival SpielArt aufgeführt, auf dem nun auch die neue Performance „...und morgen die ganze Welt“ stattfindet.

Samstag, 18. Oktober, 20 Uhr:

Das ist kein Kubus, wie Sagerer weihevoll verkündet hat, sondern ein Quader aus Leichtmetall. Die Schafe sind schon drin. Ich muß an die geklonte Dolly denken: Als Symbole für Authentizität geben die Tiere nicht mehr allzuviel her. Häuptling Sagerer kommt, die Tür wird verschlossen, mit Fanfaren startet der Trip. Der Alpenindianer schlüpft behende in die Rolle eines Schamanen. Untermalt von 30 Blechbläsern, die das erste Außenprogramm bestreiten, intoniert er in den nächsten zwei Stunden ein rhythmisches Schmatzen. Meike, ich und die übrigen paar Besucher, die sich in der Münchner Reithalle eingefunden haben, beobachten, wie er sich in Trance bringt. Ebenso konzentriert wiegen sich die zwei Schauspielerinnen langsam in abstrakten Posen. Ich beginne über die Magie der Zahl 28 zu sinnieren. Bereits Euklid soll sie für perfekt gehalten haben, weil sie sich aus der Summe ihrer Teile selbst ergibt. Ich verstehe die Erklärung nicht. Es ist alles ziemlich esoterisch hier.

Sonntag, 3.30 Uhr:

In der Halle dröhnt Drum 'n' Bass, vermischt mit Sagerers Schmatzlauten. Er verspeist gerade ein Hähnchen. Eine Schauspielerin bereitet sich auf ein Bad vor. Jeder versucht sich auf seine Weise wachzuhalten, als hinge davon das Gelingen des Projekts ab. Ich tanze. Dabei denke ich, daß ich die physische Realität eines anderen nie erfahren kann. Obwohl die Filmbilder nichts anderes zeigten, erfahre ich nichts von dem körperlichen Marathon, den sie im heißen, stinkenden Inneren ihrer Riesenkonserve da absolvieren müssen.

10.15 Uhr:

Schlechtes Kindertheater in der Halle.

15.59:

Vier renommierte ForscherInnen tauschen sich in einer Wissenschaftsperformance über aktuelle Positionen der Neurobiologie, Genetik, Psychologie und Philosophie aus. Gerade hat Professor Prinz vom Max-Planck-Institut für Psychologische Forschung erklärt, daß das Gehirn Daten nach den Bedürfnissen des körperlichen Organismus berechnet (nicht grundsätzlich wahllos wie ein Computer), als Sagerers Zahlensystem zuschlägt. Aufflammend signalisiert das Saallicht den SprecherInnen: Eure Zeit ist um. Auf der Leinwand werden nun Bilder von südamerikanischen Websites untergemischt. Bisher hat die Erkundung der Kontinente nichts zur Situation beigetragen. Die Performer konzentrieren sich ausschließlich auf ihre physischen Aktionen, das allerdings mit bewunderswerter Energie.

22.30:

Meike stellt fest, daß das Geschehen um den Quader ebenfalls völlig beziehungslos geblieben ist. Zwischen den SchauspielerInnen hat sich schließlich nichts entwickelt. Wenn sich um Mitternacht die Tür wieder öffnet, ist bloß das Wochenende um.

Montag, 0 Uhr:

Häuptling Sagerer wird mit Glückwünschen und Fragen bestürmt. Ich hätte gern gewußt: Wieviel ist 39 minus 11? Henrike Thomsen

„...und morgen die ganze Welt. Personen im Kubus“. Eine Koproduktion des proT und des Bayerischen Staatsschauspiels/Marstall. Expeditionsleiter Alexeij Sagerer. Mit Christine Landinger, Susanne Schneider; Bildregie: Thomas Tielsch