Blauer Drache im Miniformat

■ Bremer Veteran der Psychiatriereform ging nach China / Neue Ansätze stecken dort noch in den Kinderschuhen /Erster Erfahrungsaustausch zwischen Bremen und China

Als Rainer Nathow vor knapp zwei Jahren nach China aufbrach, war dem Bremer Veteran der Psychiatriereform seine Heimat eng geworden. Mittlerweile ist das anders. Das Land der Mitte hat die Wahrnehmung des Psychologen verändert: Zurück auf Bremenbesuch durchfährt es ihn am Flughafen: „Ist die Stadt evakuiert?“Zwei chinesische KollegInnen aus dem deutsch-chinesischen Projekt „Gemeindenahe Versorgung der psychisch Kranken im Stadtbezirk Jian An“benicken und belächeln diesen Eindruck von der Leere deutscher Städte, Kaufhäuser und Straßenbahnen.

Vier Wochen später werden die Krankenschwester Ding Weiwei und der Arzt Zhang Quanshui sich erschöpft vom Besuchsprogramm in der psychiatrischen Abteilung des Zentralkrankenhauses Ost, bei der Bremer Aids-Hilfe, bei Drogenberatungsstellen und beim offenen Psychiatrie-Café Blau nach dem gewohnten Trubel der sieben-Millionen-Stadt Wuhan zurücksehnen – wo Angestellte auch im kalten Winter ihren Mittagsschlaf am Arbeitsplatz für selbstverständlich halten – und wo der Umgang mit psychisch Kranken unter medizinischen Profis doch viel zu wünschen übrig läßt.

Um das zu ändern, hatte Rainer Nathow vor zwei Jahren den Arbeitsvertrag mit der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) in Eschborn unterschrieben. Mit Mitteln des Bundesministeriums für Entwicklungszusammenarbeit treibt er fortan die Psychiatriereform in China voran. Dorthin brach er gemeinsam mit Lebensgefährtin Birgit Klenke auf. Während sie Chinesisch an der Universität studiert, arbeitet er in einem Stadtteil Wuhans, der mit 680.000 EinwohnerInnen größer ist als Bremen – aber für psychisch Kranke nur 400 Stationsbetten und magere 70 Plätze in einer Tagesklinik anbietet.

Das Angebot soll ausgeweitet werden und auch Übergangswohnheime nach europäischem Vorbild – in China völlig neu – sind im Gespräch. Deshalb hat das Bremer Paar seine Mission in der chinesischen Provinz kürzlich um weitere zwei Jahre verlängert. Die beiden wollen einen staatlichen oder internationalen Geldgeber für die Tagesklinik finden, damit der Versuch einer Reform nicht schon in Kürze im Keim erstickt. Auch die gerade vorsichtig eingeführte Beschäftigungstherapie soll fester Bestandteil des Klinik-Alltags bleiben – damit sie fortan als Alternative oder wenigstens als Ergänzung zur vorherrschenden Behandlung mit Medikamenten erwogen werden kann.

Dabei kämpft Nathow gegen die frühere „Kochbuchmentalität“mancher chinesischer KollegInnen: „Die möchten einfache Rezepte, die funktionieren.“Die bietet er allerdings nicht an: Künftig sollen auch die Familien der Kranken stärker in deren Behandlung einbezogen werden. „In China hat die Familie noch nicht wie in Europa abgewirtschaftet“, sagt Nathow. Auch zählt der Einzelne ohne Familie kaum: Sozial-, Renten- und Krankenversicherung fehlen in China.

Irgendwann soll sich das Blaue Kamel – als Bremer Sinnbild des Kampfes für die Freiheitsrechte psychisch Kranker – mit dem chinesischen Blauen Drachen treffen. Den Drachen hat Nathow als Miniaturzeichnung auf einem Schnupftabakfläschchen sogar schon in China entdeckt. Aber um simple Exporte geht es ihm nicht.

„China muß einen eigenen Weg finden“, sagt der Psychologe. „Vieles erinnert an die 60er Jahre in Deutschland“, berichtet er. Auf den ersten Blick wirke die psychiatrische Landschaft Chinas „sehr weit zurück“, sagt er dann. „Vor allem aber ist sie anders“. Das können die Krankenschwester Ding Weiwei und der Arzt Zhang Quanshui bestätigen. Aber sie sind neugierig geworden. Beim nächsten Besuch werden sie vielleicht als Speerspitze einer neuen Bewegung den blauen Drachen losbinden.

ede