Für Vergewaltigung fehlt sogar das Wort

Erstmals hat das Internationale Tribunal für Ruanda Anklage wegen sexueller Gewalt erhoben. Optisch vom Publikum abgeschirmt, sagt Zeugin „J. J.“ gegen ihren früheren Peiniger Jean-Paul Akayesu aus  ■ Aus Arusha Andrea König

Zunächst ist ihre Stimme heiser, leise, schüchtern, als sie ihre Geschichte der Demütigungen im April 1994 erzählt. „J. J.“ ist die erste Frau, die vor dem Internationalen Tribunal für Ruanda als Zeugin für systematische Vergewaltigung und sexuelle Gewalt aussagt. Wenige Minuten zuvor hat der Angeklagte, Jean-Paul Akayesu, zu der neu hinzugekommenen Anklage, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, insbesondere der sexuellen Gewalt, auf „nicht schuldig“ plädiert.

Nachdem das Tribunal im tansanischen Arusha den Zeugenschutz lange vernachlässigt hatte, sind die Zeugen jetzt nicht mehr zu sehen. Die Glaskabine, die den Richtern gegenüberliegt, ist mit Stoff verhüllt. Über die Glaswand, die Publikum und Gericht trennt, ist ein schwarzer Vorhang gezogen. Es bleibt der Phantasie der Prozeßbeobachter überlassen, sich ein Bild von „J. J.“ zu machen. Aber sogar der nicht zimperliche Gerichtspräsident, der Senegalese Laiti Kama, versucht seiner sonst eher knarrigen Stimme einen sanften Ton beizufügen, als er die Zeugin anspricht: „Sie sehen ja fürchterlich verängstigt aus, versuchen Sie trotzdem, alles zu erzählen. Lassen Sie sich nicht einschüchtern, versuchen Sie, sich zu entspannen.“

Zögernd beginnt „J. J.“, ihr Zeugnis abzulegen. Nach Tagen der Spannung in der Gemeinde Taba, in Zentralruanda, hatten Mitte April die ersten Übergriffe gegen Tutsi begonnen: „Plötzlich waren die Nachbarn nicht mehr die gleichen“, sagt „J.J.“ Als ihr Haus von Nachbarn geplündert und ihr Vieh geschlachtet wurde, hatte sich die heute 35jährige Frau mit ihrer jüngeren Schwester und einem 15 Monate alten Kind auf dem Rücken in einem nahe liegenden Bananenhain versteckt. Unklar blieb, wann ihr Mann und ihre anderen drei Kinder getötet wurden, aus ihrer zehnköpfigen Familie überlebten gerade drei die Massaker in Taba. Ein Nachbar, ein Hutu, habe sie und ihre mittlerweile verletzte Schwester mit Nahrung versorgt und ihr später geraten, ins Büro der Gemeindeverwaltung zu gehen, berichtet sie. Dorthin hätten sich mehrere Tutsi- Frauen geflüchtet.

Damals war der Angeklagte, Jean-Paul Akayesu, Bürgermeister der Gemeinde. Sie sei zum Gemeindebüro gegangen, erzählt „J.J.“. Dort sei sie von Milizionären zusammengeschlagen worden. Akayesu habe die Flüchtlinge nicht vor seinem Büro haben wollen. Sie hätten sich wieder in einen Wald versteckt. Am nächsten Morgen sei sie zum Angeklagten gegangen und hätte ihn im Namen der überlebenden Frauen gebeten, sie alle zu erschießen. Er hätte ihr geantwortet, er habe keine Kugeln mehr. Am selben Tag wurden „J.J.“ und andere Frauen von Milizionären vergewaltigt. „Wann immer wir auf Milizionäre stießen, wurden wir vergewaltigt“, sagt „J.J.“.

Die Anklage hat vor der Befragung der Zeugin zu Protokoll gegeben, daß Begriffe wie Penis und Vagina auf Kinyarwanda kaum gebraucht werden. „Ein Wort für Vergewaltigung“, erklärt die seit drei Monaten für das Gericht arbeitende Frauenbeauftragte Françoise Ngendahayo, „existiert nicht einmal“. Auch wenn man kein Kinyarwanda versteht, wird klar, wie schwer es der Zeugin fällt, wenn sie genau schildern soll, wie die Vergewaltigungen abliefen. Einmal wird sie von der Anklage gezwungen, das Wort Penis zu gebrauchen. Ihre Stimme ist kaum mehr hörbar.

Am Nachmittag, als die Vernehmung weitergeht, ist die Stimme der Frau fest, ihre Sätze länger: „Wir haben ihr zugeredet, sie solle sich nicht schämen, sie solle ihre Geschichte erzählen“, erklärt Françoise Ngendahayo. „Gerade bei der Untersuchung von sexueller Gewalt an Frauen ist es wichtig, daß auch im Gericht mehr Frauen beschäftigt werden, und vor allem, daß es mehr Frauen gibt, die in Ruanda selbst die Untersuchungen führen. Wie wollen Sie Zeuginnen finden, wenn ein weißer Mann in ein Dorf kommt und fragt: Ist hier jemand vergewaltigt worden?

„J. J.“ berichtet, daß ihre Vergewaltiger alle jünger waren als sie. „Daß sie eine Mutter zwangen, sich vor aller Augen auszuziehen, und sie sich an mir vergingen, war die größte Demütigung.“ Frauenbeauftragte Ngendahayo: „Es hat beinahe so geklungen, als wollte sie sagen: hätten die Milizionäre junge Mädchen genommen, wäre das noch in Ordnung gewesen. Und von unserer Kultur aus gesehen stimmt das. Es ist nicht so, daß es wirklich in Ordnung wäre, aber eine Mutter zu vergewaltigen ist wirklich ein schweres Vergehen. Mütter sind heilig.“

Die abgeänderte Anklage gegen Jean-Paul Akayesu ist ein großer Schritt nach vorn, sexuelle Gewalt überhaupt unter Strafe zu stellen. „Was diese Frau heute geleistet hat, ist von unschätzbarem Wert für ganz Afrika“, sagt ein tansanischer Journalist. „Die Frau hat schonungslos erzählt, wie sie, wie eine Maus, von einem Ort zum anderen gejagt wurde und nirgends sicher war.“ Schätzungen gehen davon aus, daß in Ruanda während des Krieges etwa 200.000 Frauen vergewaltigt wurden. Die Sonderbeauftragte für Gewalt an Frauen der UN-Menschenrechtskommission, Radhika Coomearaswamy, ist speziell für „J.J.“ nach Arusha gereist. Sie ist dabei, einen Bericht über Gewalt an Frauen im Krieg vorzubereiten. Der hohe Besuch ist ein Zeichen mehr für das Gewicht dieser neuen Anklage.