Geschichte in 23 Sekunden

Warum der Dichter Viktor Jerofejew Rußland nicht liebt. Eine Reportage, die auch zu KP-Chef Sjuganow führt  ■ Von André Meier

Etwa zur gleichen Stunde, als in Petersburg der Kreuzer Aurora an der Nikolajewskij-Brücke anlegt, öffnet Clara Rilke-Westhoff in Fischerhude einen Brief ihres Mannes. Es ist der Abend des 7. November 1917. Rainer-Maria weilt in Berlin und ahnt, daß sich die Welt bald ändern wird: „Man muß auf viel Zeit, Not und Finsternis gefaßt sein, denn die Veränderungen, die allein weiterführen, müßten bis zu den Wurzeln der jetzigen Verhältnisse hinabreichen.“

Das hätte auch Lenin nicht besser formulieren können, dessen schmale Lippen sich in diesem Moment zu einem Grinsen zusammenziehen. Denn durch die dicken Mauern des Smolny-Instituts hörte man ein mächtiges Krachen. Es ist 21.45 Uhr, und die Aurora hat soeben das Feuer eröffnet. „Jetzt geht's los“, freuen sich Wladimir Iljitsch und seine engsten Genossen, während das bolschewistische Fußvolk unter lautem Gebrüll gegen das Winterpalais anrennt.

Gut fünf Wochen später begeistert sich Rilke über das neue Rußland: „Dieser Aufruf der Regierung vorgestern, mit der Überschrift ,An alle, die leiden und ausgenutzt worden sind‘ ... dies als Sprache einer Regierung –: neue Zeit, Zukunft, endlich!“

Ein in Seide gestickter Lenin aus Peking

Rilke und Riedle verbindet nicht viel, sieht man einmal davon ab, daß auch die Berliner Autorin seit ein paar Jahren ein inniges Verhältnis zu Rußland hat. Nur deshalb habe ich ihr auch meinen in Seide gestickten Lenin geschenkt. Der stammt zwar aus Peking und war überdies Teil eines weltkommunistischen Altherrentriptychons. Doch schließlich hatte Riedle Geburtstag, und so hängen jetzt Mao und Stalin allein an meiner Wand. Aus rein ästhetischen Gründen. Denn diese Porträts sind aus den frühen fünfziger Jahren, stammen also noch aus kommerziell völlig unverdorben-rotchinesischer Volkskünstlerhand.

Viktor Jerofejew gefiel der Lenin, der nun über Gabriele Riedles Bett thront, trotzdem nicht. Jerofejew ist eher eine Art Anti-Rilke. Wo der tote Deutsche bis zum Abwinken sublimiert, haut der Russe gleich zweimal drauf. Sein neues Buch heißt „Das jüngste Gericht“ und wurde in Deutschland total verrissen. Von Pornographie war da die Rede. Zugegeben, in dem Wälzer wird viel gefickt. Aber was ist daran verwerflich, wenn nicht der Umstand, daß es ausgerechnet ein Russe macht?

Vielleicht war das freie Feuilleton auch nur pikiert. Denn während sich Jerofejew in seinem ersten und weltweit gefeierten Roman „Die Moskauer Schönheit“ das auseinanderbrechende Sowjetimperium als Matratze greift, ist es diesmal der Westen. Sein neuer Held heißt Sisin und ist ein Moskauer Dichter. Der wiederum, und hier wird es sehr autobiographisch, hat unter dem programmatischen Titel „Das Jahrhundert der Fotze“ ein Erfolgsbuch geschrieben, mit dessen Hilfe er nun dem postkommunistischen Chaos entflieht. Dorthin, wo der harte Dollar lacht.

Im Westen angelangt, läßt sich Sisin als Perestroika-Star füttern und feiern. Er schwätzt, säuft und bumst sich um den Globus und gelangt dabei zu der bitteren Einsicht, daß, egal, wohin er geht und zwischen wessen Beine er fällt, überall nur dieselbe Hölle auf ihn wartet. Jerofejew selbst faßt, was dann kommt, wie folgt zusammen: „Sisin muß entsetzt feststellen, daß das ganze Konzept der russischen Intellektuellen, das darauf spekuliert, Rußland müsse nur die westlichen Werte oder dessen Vorstellung von Freiheit akzeptieren, dann hätte es automatisch eine goldene Zukunft vor sich, nicht aufgeht. Und so kommt er zu der Erkenntnis, daß der ganze Westen, angefangen von den Vereinigten Staaten bis hin zu Deutschland, vernichtet werden muß.“ Verständlich, daß hierzulande so viel exsowjetischer Undank Verärgerung auslöst. Als deutschem Ostler hingegen sind einem derartige Gedanken nicht gänzlich unvertraut.

Kurzum, dieser Jerofejew schien Anlaß genug, mit der Kamera in Lenins Land zu fliegen. Was natürlich auch dadurch erleichtert wurde, daß Riedle und der Dichter inzwischen eine ebenso intensive wie hochdramatische Arbeitsbeziehung eingegangen waren. Gemeinsam fuhren sie die größten Flüsse unseres Planeten auf und ab, um mit allerlei koitalen Eskapaden die deutsch-sowjetische Freundschaft hochleben zu lassen. Nicht ohne zwischendurch, miteinander oder allein, über Gott und das jeweilige Stück Welt vor ihren Füßen zu sinnieren. Das las sich bislang sehr schön und öffnete in Moskau Türen.

Als erste die Autotür des Dichters. Jerofejew wartete mit seinem Volvo vor dem Flughafen auf uns. Wer je in Moskau-Scheremetjewo von hungrigen Taxifahrern umlagert wurde, weiß solch einen Service zu schätzen. So blieb uns der drohende Mafiatod vorläufig erspart. Obgeich auch unser Mann, kaum war die Wagentür ins Schloß gefallen, hauptsächlich von Deutschmark, Prozenten und Agenten sprach.

Dergleichen gehört aber inzwischen, so viel wußten wir schon, zur Landesfolklore. Wo früher die Reisegruppen mit Brot und Salz willkommen geheißen wurden, stehen heute bullige Finsterlinge und rollen genüßlich ihre Dollarscheine. Wer noch immer darüber jammert, daß die DDR, kaum angeschlossen, zum Tummelplatz westlicher Halsabschneider und moralinsaurer Oberlehrer verkam, dem ist zur Abschreckung Rußland zu empfehlen. Denn hausgemacht ist der Marsch in die Marktwirtschaft wohl noch um etliches schwerer zu verdauen.

Im Hotel Ukraina, wohin uns Jerofejew vom Flughafen durch den russischen Regen fährt, gibt sich die neue Elite die Klinke in die Hand. Falls sie die überhaupt frei hat. Denn meistens fühlt sich der Businessman hier ausgesprochen ungezwungen und kratzt voller Besitzerstolz an den Eiern unter seiner sündhaft teuren Trainingshose herum. Kaum vorzustellen, daß diese Finger noch vor zehn Jahren brav zum Pioniergruß hochschnellten: „Immer bereit!“

Fast ist man geneigt, sich zu wünschen, daß die stalinistisch buntgetuschten Sowjetmenschen, die hier immer noch die Decke zieren, herniederfallen. Damit sie, fleischgeworden, wohlgekleidet und -erzogen, den stolzen Bau säubern, wie es weiland Jesus mit dem Tempel tat.

Doch sie bleiben, wo sie sind, und wir in Rußlands Gegenwart. „Telefon kaputt“, sagt die Frau an der Rezeption ohne die mindeste Spur von Bedauern. Trotzdem klingelt der Apparat in der Nacht pausenlos. Anfänglich fühlt man sich noch wie Mister 100.000 Volt und von der Tatsache geschmeichelt, daß fremde zarte Stimmen einem die Sehenswürdigkeiten ihres Körpers zur Besichtigung anpreisen. Zumal das auch nie ohne Verweis darauf geschieht, daß dieser erstens blutjung und zweitens hundertprozentig russisch sei. Doch spätestens ab fünf Uhr morgens beginnt die Nathalie- Schwemme zu nerven. Erst recht, wenn drei Stunden später der Boss aller noch verbliebenen russischen Kommunisten auf einen wartet.

Russische Titten und verstockte Stalinisten

KP-Chef Sjuganow ist unser Joker. Ohne das Versprechen, ihm ein paar abfällige Bemerkungen über Jerofejew aus der Nase zu ziehen, hätte uns kaum ein Sender nach Moskau geschickt. Denn zwischen russischen Gangstern und russischen Titten sieht der deutsche Fernsehzuschauer auch zuweilen verstockte Altstalinisten gern. Die Aussichten, daß sich der russische Oberkommunist als ein solcher entpuppt, standen nicht schlecht, jedenfalls, wenn man Jerofejew trauen konnte. Denn „Sjuganow“, so erzählt er nicht ohne Stolz, „hat 1996 in einer Wahlkampfbroschüre angekündigt, im Falle seiner Ernennung zum Präsidenten ,Leute wie diesen Jerofejew aus dem Land zu werfen‘.“ Eine Drohung, die uns für einen Kommunistenführer durchaus legitim erschien.

Jerofejew war sowieso ständig auf Reisen. Ein Umstand, der ihm dabei half, sich „nicht mehr als russischer Intellektueller“ zu fühlen. Was ihn nicht bekümmerte, weil er der Ansicht war, daß „unter den Bedingungen der Freiheit das spezifische russische Intellektuellentum überhaupt nicht mehr funktioniert“. Jetzt wurde uns auch klar, warum der russische Schriftstellerverband im letzten Jahr seinen Scholochow-Preis ausgerechnet an Sjuganow verliehen hat und 1995 und 94 an Castro und Karadžić.

Also hinein in die Duma, wo auch schon ungeduldig Sjuganows Pressesprecherin auf uns wartet. Natürlich haben wir verschlafen, was ihren Chef, den sie nicht Genosse, sondern Gennadij nennt, ganz offensichtlich verärgert hat. Vielleicht ahnt er auch, daß diese Deutschen ihn nur vorführen wollen. „Jerofejew?“ Sjuganow zieht seine kahle Stirn in Falten. Ja, diesen Namen hat er „schon einmal gehört“, aber ein Urteil über dessen Werk will er sich verkneifen. Alles aus, befürchten wir, doch dann legt er nach: „Allgemein ließe sich aber sagen, daß die Jahre unter der Herrschaft Jelzins alle Sphären des wissenschaftlichen, des intellektuellen und des kulturellen Lebens zerstört haben.“ Jetzt verfinstert sich sein Gesicht völlig: „Es ist die Epoche der Antikultur, der Zerstörung, der Trunksucht und des Verbrechertums.“ Wunderbar, mit diesem 23-Sekunden-Statement ist die Geschichte im Kasten. Aber wenn man schon einmal hier ist, kann man ja auch weiterbohren. Schließlich sitzt da ein Nachfahre Lenins. Und wer weiß, vielleicht wird er eines Tages tatsächlich Präsident. Obwohl noch nicht sicher ist, daß Jerofejew dann wirklich endgültig nach New York, Paris oder zur Kollegin Riedle emigrieren muß. Denn ein fertiges kulturpolitisches Kampfprogramm haben die Kommunisten offensichtlich nicht. „Die Kunst ist frei, gegen Pornographie gibt es Gesetze“, erklärt Sjuganow, und dann schimpft er gegen das russische Fernsehen. „Nur billiger amerikanischer Mist. Serien, die so schlecht sind, daß selbst die Amerikaner sie sich nicht ansehen würden.“ Da kennt er die Amerikaner nicht, denken wir und halten den Mund. „Prinzipiell aber“, so fährt der KP-Chef nun schon freundlicher fort, „habe ich überhaupt nichts gegen westliche Kultur. Ich liebe das französische Chanson, die italienische Architektur.“ Nun kommt er auf Rußland zurück und beginnt zu lächeln. „Die Völker unseres Landes haben so wundervolle Tänze und Lieder, die müssen wir bewahren.“ Mit diesem Plädoyer für den Schutz der Irkutsker Herzbuben und des AllunionsStadels in den Ohren sausen wir nach einer halben Stunde die Duma-Treppen wieder hinab.

Jerofejew, der in seiner geräumigen Wohnung aus der Chruschtschow-Ära auf uns wartet, ist über Sjuganows Zurückhaltung ein wenig enttäuscht. Aber schließlich hat er genug Feinde in dieser Stadt. Und so fahren wir gleich am nächsten Tag zur Literaturnaja Gaseta. Dort wartet Pawel Basinski auf uns, nach eigener Auskunft stellvertretender Abteilungsleiter für russische Gegenwartsliteratur und ein ausgewiesener Jerofejew- Hasser. Der Literaturkritiker ist vielleicht Ende Zwanzig und schaut durch dicke Brillengläser und insgesamt ein wenig traurig aus. Ganz so wie früher sowjetische Mathematikolympiadegewinner. Hier aber geht es um Literatur, und daß Basinski darüber Bescheid weiß, will er nun beweisen. Geduldig hören wir ihm zu, wie er durchs 17., 18., 19. und 20. Jahrhundert zieht, um schließlich atemlos bei Jerofejew zu landen. Der ist eigentlich gar „kein russischer Dichter“, sondern – und das ist als Schimpfwort gemeint – „ein Kosmopolit“.

Für die Realität ist das Fernsehen da

„Er liebt Rußland einfach nicht“, seufzt der junge Mann sichtlich müde. Und er fragt uns, was ein Lehrer von Jerofejews Büchern halten soll, der fest daran glaubt, daß die Kunst den Menschen erheben muß. Ganz offensichtlich denkt das auch Basinski. Als wir ihn daran erinnern, daß Jerofejew doch nur die Realität beschreibt, zuckt er mit den Schultern: „Dafür haben wir doch jetzt das Fernsehen und die Zeitungen.“ Lassen wir diese Meinung und den traurigen Mann in dem kleinen Büro stehen und gehen auf die Straße zurück. Länger hätte es der Kameramann auch nicht ausgehalten, denn er war am Abend zuvor bei einem Moskauer Edelmexikaner essen, und für so viel Geld wie hier hatte der Ärmste noch nie gebrochen.

Zurück im Hotel packen wir die Koffer und wollen ins Taxi. Die Rubel sind alle. „Macht nichts“, sagt der Fahrer, „ich nehme auch Dollar.“ Ob nicht vielleicht auch D-Mark gingen, fragen wir und fliegen raus. Später, in Petersburg, tröstet uns der Poet Kriwulin: „Das wird alles besser.“ Wie, wollen wir wissen, und er lacht. Zusammen mit anderen Künstlern hat er eine Schule gegründet, in die vor allem Mafiabosse ihre Söhne schicken. „Die sind unsere Hoffnung“, so der Dichter und FAZ-Gelegenheitsautor, während er an seiner dicken blauen Zigarettenschachtel Marke „Peter I.“ dreht. „Das sind Prachtkerle. Wenn ihre Väter sich gegenseitig umgebracht haben, werden sie das Geld haben und die Kunst respektieren.“

Am Abend suchen wir die Aurora, nicht mehr ganz so sicher, ob sie vor achtzig Jahren wirklich geschossen hat. Wir finden sie nicht. „Rußland“, schreibt Rilke 1921 und wieder leicht ernüchtert, „hat eben, seiner tiefen Aufgabe und Begabung nach, als einziges Land das ganze unendliche Leid auf sich genommen und verwandelt sich in ihm.“ Nur: in was?