Die Stimme der Vernunft ist eher enervierend

Über einen zuweilen übersehenen Faktor bei der Überwindung mancher sozialer und politischer Konflikte  ■ Von Jan Philipp Reemtsma

Manches regele sich von allein, sagt man. Buchstäblich stimmt das nicht, aber es ist etwas dran. Es gibt die Geschichte vom Rabbi, der leichtfertigerweise vor einem König behauptet, einem Hund das Sprechen beibringen zu können. Wie lange er dazu brauche? Fünf Jahre. „Gut, in fünf Jahren kann der Hund sprechen, oder du verlierst deinen Kopf.“ Als der Rabbi nach Hause kommt, macht ihm seine Frau bittere Vorwürfe wegen seines Leichtsinns. Der Rabbi antwortet ihr: „Fünf Jahre sind eine lange Zeit. Wer weiß, vielleicht sterbe ich, vielleicht stirbt der König, vielleicht stirbt der Hund?“

In trockenere Prosa übertragen: Probleme verändern sich im Laufe der Zeit. Die Parteien eines Konfliktes ändern ihre Zusammensetzung; der Problemkontext bleibt nicht derselbe, genausowenig wie der Problemgehalt. Wer dem klassischen Rat folgt, nach einer Kränkung erst bis hundert zu zählen, bevor er antwortet, zieht eine praktische Lehre aus dieser theoretischen Einsicht: Er läßt den ersten spontanen Ärger vergehen und verändert damit den Konflikt bereits – ein wenig, aber immerhin. Das soll nicht heißen, daß alle Probleme durch Liegenlassen einfacher werden. Das Aussitzen kann eine Problemlösungsstrategie sein, manchmal eine kluge, oft eine ziemlich gefährliche, denn selbstverständlich können Probleme sich auch so verändern, daß ihre Lösung schwieriger wird.

Worum es mir hier geht, ist, darauf hinzuweisen, daß man, wenn man liegengebliebene Probleme angeht, sie daraufhin ansehen sollte, was die Zeit mit ihnen gemacht hat. Darum ist es unter anderem der Dialogkommission gegangen, und wo ihre Arbeit erfolgreich gewesen ist, da ist sie es im praktischen Umgang mit solchen Veränderungen gewesen. Daß sie überhaupt tätig werden konnte, lag ja daran, daß irgendwann die „Patriotische Gesellschaft“ in dem Gesamtproblem aufgetaucht war und vermittelnde Dienste angeboten hatte. Das hatte zu allerlei Ärger geführt, aber der Gesellschaft auch Beifall eingetragen – es hielt sich wohl ungefähr die Waage. Der bloße Umstand des Hinzutretens einer traditionsreichen Institution der Hansestadt hatte aber eine neue Facette zu dem Problem hinzugefügt, das Problem war um ein weniges komplexer geworden, als es vorher war. Die Reduktion von Problemkomplexitäten ist ein gutes Mittel, Probleme eskalieren zu lassen. Das beste Bild dafür ist irgendein Dodge-City, das noch eben wimmelt von lauter Leuten, die alle irgendwie in irgendwelche Probleme und Konflikte verwickelt sind – aber dann ist die Hauptstraße wie leergefegt, und nur noch zwei stehen einander gegenüber, die Hände auf den Revolvertaschen. Das ist Komplexitätsreduktion: Reduktion auf die Frage, wer zuerst zieht. Wenn jetzt der Marshal sich einmischt und sagt, er dulde keine Schießereien in der Stadt, dann wird die Sache wieder schwieriger, weil sich, anders als zuvor, die Frage stellt, ob es sich lohnt, der zu sein, der zuerst zieht.

Im Falle des Problems „Hafenstraße“ gab es immer wieder Momente, in denen das Problem rapide auf solche komplexitätsreduzierten Situationen und die Eskalation auf einen Show-down sich zubewegte. Im dramatischen Jahre 1987 wurde durch Klaus von Dohnanyis Vertragslösung zwar ein Show-down vermieden, aber das Problem nicht wirklich gelöst. Worin bestand es? Darin, daß die Stadt mit ihrer Doppelrolle als Vermieter und als Ordnungsmacht nicht zurechtkam, Mietprobleme wurden durch Einsatz von Ordnungskräften, Ordnungsprobleme durch das Mietrecht zu lösen versucht. Das war nicht nur ungeschickt und den Bewohnerinnen und Bewohnern der Hafenstraße gegenüber unfair, um etwas Mildes zu sagen, es war oft rechtlich problematisch bis rechtswidrig, immer wieder entzog sich Gravierendes parlamentarischer Kontrolle – insgesamt nahm das rechtsstaatliche Gefüge durch diese Politik immer wieder Schaden. „Dohnanyis Lösung“ nun löste, wie gesagt, das Problem nicht (das wäre nur durch eine Entstaatlichung, das heißt Privatisierung, sei es durch eine Genossenschaftslösung, sei es durch ein privates Investment gelungen), sondern konservierte es in den vertraglichen Strukturen, die gefunden worden waren. Eigentlich konnte das nicht gutgehen. „Gut“ ging es auch nie, aber nicht so schlecht, wie man anfangs hätte vermuten können (und wie ich anfangs vermutet hatte).

Das lag daran, daß kein Problem die Zeitläufe unverändert übersteht. Alle Bestandteile – siehe oben – können sich ändern und ändern sich irgendwie. Worauf es ankommt, ist, die Art der Veränderungen zu erkennen und zu sehen, ob sie Chancen der Problemlösung bieten. Zu solchen Veränderungen gehört auch der simple Überdruß an einem Problem. Mit den Jahren gab es einfach mehr Leute, die eingesehen hatten, daß der Senat der Freien und Hansestadt nicht einfach Beifall gewinnt, wenn er in den neunziger Jahren „das Problem Hafenstraße“ mit nunmehr fester Hand anpackt, sondern sich vielleicht damit gehörig lächerlich macht. Aber auch anderes ändert sich. Die Zusammensetzung der Bewohnerschaft, das Verhältnis zu anderen Gruppen im Stadtteil, die Problemlagen im Stadtteil überhaupt, die Anzahl von Bürgern, die Interesse an demokratischen Planungsverfahren haben, und so weiter.

Aufgabe der Dialogkommission war es also unter anderem zu demonstrieren, daß das Problem nicht alterlos konserviert worden war, daß man im Grunde überhaupt nicht mehr von „dem Problem Hafenstraße“ sprechen konnte. Dieser Demonstration dienten die Foren, die als Orte solcher Demonstration ihren Wert an sich hatten. Daß Senator Mirow auf einem Podium mit Vertreterinnen und Vertretern der Bewohnerschaft der Hafenstraßenhäuser saß, hatte ebenso seinen Wert in sich wie die Diskussion um die Neubaumodelle vom Jahr zuvor. Es geht bei solchen Veranstaltungen nicht darum, daß „etwas dabei herauskommt“ – wenn man darunter versteht, daß nun Einigkeit herrscht und alle wissen, was sie (gemeinsam) wollen. Darum hat die Dialogkommission auch nie den Zwischenträger zwischen den Parteien oder den Vermittler gespielt. Sie hat sich in der Rolle des Katalysators versucht, zuweilen erfolgreich. Die Foren, um auf sie zurückzukommen, zeigten einer weiteren Öffentlichkeit die bloße Tatsache, daß sich die Problemlage verändert hatte, veränderte dadurch die Nachrichtenlage über das Problem und trug erneut zur Veränderung bei.

Diese Tätigkeit hat die Komplexität der Problemlage erhöht und damit das Risiko einer erneuten Eskalation bis hin zu einem gewalttätigen Ausgang vermindert.

Auch hier war es Aufgabe der Dialogkommission, etwas zu zeigen – nicht selber Propaganda für dies oder das zu machen. Man muß eine auf Eskalation gerichtete Rhetorik nämlich gar nicht unbedingt widerlegen wollen (das gelingt ohnehin selten), sondern man kann oft deutlich machen, daß sie mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun hat. So mußte man sich mit der Frage nicht herumschlagen, ob diese Rhetorik 1987 eine angemessene gewesen war oder nicht, sondern ließ sie ihre offenbare Unangemessenheit im Jahre 1994/95 selbst an den Tag legen.

Das Angenehme an einer so verstandenen Problemlösungsstrategie ist, daß man sich nicht als die Stimme der Vernunft auffassen oder als Rufer in der Wüste aufspielen muß – denn das ist für einen selbst im Grunde immer frustrierend und pflegt anderen auf die Nerven zu gehen. Angenehmer sowie effektiver ist es, sich vorzustellen, daß man daran mitwirkt, ein scheinbar einfaches (und darum sich für radikale Lösungen – d.h. für die eine Seite Räumung, für die andere mindestens Stadtteilrevolution – eignendes) Problem mit List und Tücke so durcheinanderzubringen, daß es sich für einfache – das heißt unangemessene – Lösungen nicht mehr eignet, dann zu demonstrieren, wie es sich tatsächlich verändert hat, und schließlich mitzuhelfen, Räume – im materiellen wie immateriellen Sinne – zu schaffen, in denen alle, die es angeht, sich mit den Folgeproblemen (denn das Original ist längst perdu) herumplagen können.