Koks und Crack und Country

In Lana Witts Debütroman „Kentucky Blues“ sind Beerdigungen sehr wichtig, und auch sonst lebt es sich eher träge unter den Dinosauriern der Südstaaten-Provinz  ■ Von Thomas Wörtche

In Pick (Pop. 900, Burr County, Kentucky, USA) bleibt man zum Beispiel hängen, wenn das Auto zusammenbricht und in der einzigen Werkstatt weit und breit gerade ein größeres Besäufnis stattfindet. So gerät Tom Jett, abgebrochener Philosophiestudent und genialer Schreiner aus San Diego, Ca., nach Pick.

Rosalee Wilson ist es gelungen, aus Pick wegzukommen. Bis Florida hatte sie es geschafft, sich umgetan und war bei einem ziemlich merkwürdigen und gefährlichen Typen hängengeblieben. Aber nicht allzu lange. Dann ist sie davongelaufen. Jetzt versteckt sie sich wieder in Pick bei ihrer alten Flamme Gilman Lee. Der ist nie aus Pick rausgekommen. Hier hat er seine Autowerkstatt, seinen Freund, das Faktotum Ten-Fifteen; der heißt so, weil seine Arme genau auf der Uhrzeigerstellung festgewachsen sind. Lee ist Alkoholschmuggler (in Burr County herrscht heute noch Prohibition), begnadeter Sänger & Gitarrist und im großen und ganzen mit der Welt zufrieden. Seit ewigen Zeiten verehrt er Gemma Collet erfolglos. Die war schnellsten aus Chicago wieder nach Pick zurückgekehrt, als ihre Haut anfing, sämtliche Pigmente zu verlieren. Jetzt ist Gemma strahlend weiß, versponnen und misanthrop. Nur Tom Jett kann sie plötzlich aus der Reserve locken. In dessen Haus allerdings hat Gilman Lee Rosalee untergebracht, was dringend nötig ist, weil jener verrückte Frank Denton aus Florida hinter ihr her ist und ebenfalls in Pick landet.

Ein Skelett sitzt an Gilmans Tafel

Fünf außergewöhnliche Figuren also, deren Schicksal sich in den abgelegenen Hügeln von Kentucky neu bestimmt – das ist die Grundkonstellation von Lana Witts Erstling „Kentucky Blues“, mal wieder einer dieser griffigen deutschen Titel, die so voll danebenliegen. Der Roman heißt „Slow Dancing on Dinosaur Bones“, und Blues ist nun wirklich die allerletzte Musik, die einem dazu einfällt. Die Zeit vergeht in der Tat langsam in Pick, die Lebenden und die Toten stehen in inniglichem Kontakt. Gilmans Lieblings-Zechkumpan ist sein alter Freund Zack Morely, der schon lange tot ist, aber als Skelett fröhlich mit an Gilmans Tisch sitzt. Beerdigungen sind etwas Wichtiges. Gemmas Mutter zum Beispiel geht zu jeder erreichbaren, um gute Tips und Anregungen für ihre eigene zu gewinnen. Auch die Geister der lange toten Indianer kann man in dieser spökenkiekerigen Gegend immer noch sehen, so wie ihre Schriftzeichen in den vielen Höhlen.

Lana Witt hat um diese zauberische Gegend und die schrägen Menschen, die dort wohnen, ein ebenso zauberisches, „langsames“ und sehr poetisches Buch geschrieben, mit Zeit und Platz für Abschweifungen und eingelagerte Geschichten, mit einem schönen Feeling für teilweise arg schwarzen Humor. Die reine Bukolik ist das natürlich nicht. Land und Leute sind, in Momenten jäh aufblitzend, lebensgefährlich und können sich in unverständlicher Brutalität entladen. Das alberne amerikanische Rumgehampel gehört dahin, genauso wie urplötzlich lostobende Naturgewalten.

Ein aggressiver Kohleabbau versaut die Landschaft, bewahrt aber die ganze Region vor totaler Arbeitslosigkeit. Die Konflikte unter der idyllischen Oberfläche sind allzeit präsent. Gleichzeitig bricht die Moderne mit Koks & Crack in die einheimische Marihuana-Kultur ein (das kann man nämlich in Burr County prächtig selbst anbauen, und der Sheriff interessiert sich dafür so gar nicht). Den Koks besorgt der lokale Sparkassenvorsteher, ein kleines Detail unter vielen anderen, das sehr schön Lana Witts stille und analytische Intelligenz beim Beschreiben von Realitäten zeigt. Dazu gehört auch, wie sie auseinandernimmt, daß die Geschlechterrollen auch in den hintersten Ecken des Landes keineswegs den Klischeevorstellungen entsprechen müssen. Sowohl Gemma als auch Rosalee sind eindrucksvolle Frauenfiguren, jenseits jeglicher Regeln des organisierten Feminismus. Deswegen steht zu hoffen, daß Lana Witts Buch nicht Teil des elenden „BFLM“ (Big Fat Lady Market) wird, der zur Zeit die amerikanische Verlagslandschaft gerade auch für intelligente SchriftstellerInnen zu ruinieren droht.

Sehr befriedigend auch, daß sie nicht der Versuchung erliegt, mit Frank Denton aus Florida „das Böse“ oder „das Grauen“ in Pick einbrechen zu lassen. Zwar begeht Denton einen Mord, der wegen seiner Beiläufigkeit literarisch höchst präzise und effektiv als Schock gesetzt ist, aber auch er kann die natürliche Kette von Leben und Tod seit den Zeiten der Dinosaurier nicht ernsthaft beeinträchtigen. Genausowenig wie die Kohle-Leute, die vor dem subversiven Einfallsreichtum der Hinterwäldler letztlich resignieren müssen.

Lana Witt hat keine These und kein Telos ihres Erzählens. Sie feiert weder Thoreausche Naturidolatrie noch die merkwürdigen Tugenden der pioneers. Sie spielt auch nicht die Unmoral der Städte gegen die Moral des Landes aus. Statt dessen balanciert sie klug zwischen klaustrophober Enge und Luft zum Atmen und gewinnt damit genug Raum für ihre Figuren.

Harte Schnitte, stetes Saufen

Mit einem harten Schnitt steigt sie in das Leben ihrer Hauptfiguren ein: „Als Gilman Lee zu seinem Herd schwankt, um Frühstück zu machen, fällt ihm ein Mann auf, der im Lehnsessel schläft“ – und zu einem bestimmten anderen Zeitpunkt wieder aus: „,Bin schon unterwegs‘, sagt Gemma und geht ins Haus.“ Dazwischen passiert viel, davor ist viel passiert, und danach wird viel passieren. In der erzählten Zeit sortieren sich Tote und Lebende neu, Gilman kann jetzt auf einer anderen Ebene mit Zack weitersaufen, und Ten-Fifteen ist zu Geld gekommen. Das Leben geht weiter. Deswegen ist „Kentucky Blues“ auch eines der seltenen Beispiele für gelungenes Erzählen im Präsens, denn Präteritum und Plusquamperfekt werden für andere Zeitschichten gebraucht, während alles Zukünftige dem Kopf der Leser überlassen bleibt.

Ein verblüffendes Buch, das, bloß weil abseits von zeitgeistigen Diskursen, bitte nicht untergurgeln möge.

Lana Witt: „Kentucky Blues“. Roman. Aus dem Amerikanischen von Klaus Berr. Blessing Verlag, München 1997, 378 Seiten, 44,90 DM