■ Die mediale Offensive zu 20 Jahren Deutscher Herbst hat eher eine Remythologisierung als historische Aufklärung befördert. Ein Resümee
: Phantomschmerz RAF

1977 hat es die „Offensive '77“ gegeben, die von der Ermordung Bubacks bis zur Hinrichtung Schleyers führte – 20 Jahre später haben wir die Medienoffensive 1997 erlebt. Kein Fernsehkanal, kein Magazin, keine Zeitung, die auf eine schaurig-voyeuristische Redramatisierung der Schleyer- Entführung verzichten wollte. Es begann mit Breloers „Todesspiel“, dann folgten die Serien im Spiegel und in der Zeit, das taz-Journal, das Magazin der Berliner Zeitung, die Dokumentationen in ZDF und ARD. Und Peter-Jürgen Boock als Kronzeuge everywhere. Das Quasidokumentarische gibt sich als Beitrag zur Entmythologisierung und ist doch zugleich auch Teil einer Remythologisierung. Früher hat der Staat möglicherweise die RAF gebraucht, um seinen Apparat an ihr beweisen zu können. Heute scheinen die Massenmedien die Negativaura der RAF zu benötigen. In einer Republik, die an politischer Langeweile zu ersticken droht, setzen TV-Anbieter und Zeitgeist-Magazine auf das Exzeptionelle. Entführung, Raub, Mord und Terror gehören ohnehin zu ihrem Alltagsgeschäft – politisch eingebunden wird das Ganze jedoch zum zeitgeschichtlichen Beitrag mit Aufklärungsanspruch geadelt.

Das Konzept Stadtguerilla stammt, daran ist kein Zweifel, aus dem Zentrum der Neuen Linken. Die Antiautoritären im SDS haben es, wenn nicht erfunden, so doch adaptiert. Dutschke und Krahl, die unbestrittenen Matadore jener Tage und beide ehemalige Heideggerianer, hatten Ché Guevaras Fokustheorie auf die sogenannten Metropolen übertragen wollen. Doch was bei ihnen kaum mehr als ein verwegener Entwurf war, daraus machten Genossen aus dem dritten Glied Ernst. Als die Kaufhausbrandstifter im Oktober 1968 verurteilt wurden, rief Dany Cohn- Bendit in den Gerichtssaal: „Die gehören zu uns.“ Baader & Co. waren, auch wenn sie von der Peripherie her kamen, integraler Teil der studentenbewegten Linken.

Legitimationsunfähig war die RAF von Anfang an. Ihre Kader, die Hypermoralistin Ulrike Meinhof allen voran, hat dieses Defizit, in dem der politische und moralische Bankrott vorgezeichnet war, nie gestört. Bereits die Baader- Befreiung war als gewaltsamer Gründungsakt symptomatisch. Sie war eine Mißgeburt, die einen Unbeteiligten beinahe das Leben gekostet hätte. Indem die Flucht nach vorn angetreten wurde, mußten auch die Fäden zu ihrem Umfeld gekappt werden. Die RAF hatte sich mit ihrem Start zugleich aus der linken Szene herauskatapultiert. Arrogant entzog sie sich jeglicher Öffentlichkeit und forderte von den in der Legalität Verbliebenen um so drakonischer Solidarität ein.

Die radikale Linke war der RAF regelrecht auf den Leim gegangen, sie hing an ihren Gewalt- und Machtphantasien wie an einem Fliegenfänger. Aus ihrer Perspektive war der Kampf zwischen dem Staat und den RAF-Kommandos ein Stellvertreterkrieg. Der Staat wahrte die Interessen des Kapitals, die RAF die der radikalen Linken. Aktionen der Guerilla waren Ersatzhandlungen, die die soziale Isolation und die politischen Mißerfolge im angestrebten Klassenkampf kompensieren mußten. Die RAF war eine Identifikationsfalle, aus der es lange keinen Ausweg zu geben schien. Offenkundig existierte unter den Linksradikalen das, was einer von ihnen einmal flapsig „Bedürfnis nach RAF“ nannte. Ihre zähe Solidaritätsbereitschaft ist wohl nur mit libidinöser Bindung der Linksradikalen an die RAF zu erklären.

Für den Großteil der radikalen Linken war die RAF kaum etwas anderes als ein Phantom, das durch die Medien geisterte. Nicht eingreifen, nur zuschauen konnte die Devise heißen. Und zugleich vermittelte sie so etwas wie einen Phantomschmerz. Vom bewaffneten Arm war kaum mehr als ein diffuses Stechen zu verspüren. Beim Griff nach ihm stellte sich heraus, daß er nicht mehr existierte. Es waren nur die Nervenenden, die noch zu spüren waren. Der Arm selbst schien wie bei einer Kriegsverletzung längst amputiert zu sein. Die RAF ist, ob gewollt oder nicht, immer ein Teil dieser radikalen Linken gewesen. Jedoch ein wenig anders als gemeint. Sie war der schmerzhafte Teil ihres Nervenkostms, nicht aber ein reales Glied von ihr. Die RAF war vor allem ein Phantom, real weniger im Handlungsbereich als im Schmerzempfinden der Linken – und in den Phantasmagorien der Medien. Dies bestätigt sich im Herbst 1997. Der Zuschauersessel stand wie damals schon bereit.

Jüngst ist die These vertreten worden, die Bundesrepublik habe 1977 ein zivilisierendes Bad erfahren. Dem Rechtsstaat sei, so F.C. Delius in der Zeit, daraus „ein neues Staatsgefühl und Selbstbewußtsein“ erwachsen; darin bestünde die „tiefere Vernunft des Jahres 1977“. Dieses kathartische Modell jedoch trägt Züge eines Selbstbetrugs. Gegen eine wirkliche „Läuterung“ spricht manches. Der Staat hat keines der damals im Eilmarsch durchgepaukten Ausnahmegesetze wieder zurückgenommen. Und trotz all jener Ex- RAF-Kombattanten, die dem bewaffneten Kampf abgeschworen haben, halten sich nach wie vor zu viele alle Optionen offen.

Auch 20 Jahre nach dem Deutschen Herbst gibt es immer noch eine verschwiemelte Identifikation mit Resten der RAF. Die Konjunktur einer mythologisierenden, halb heroisierenden Erinnerungskultur ist Ausdruck davon: Die Memoiren von Til Meyer, Inge Viett und Irmgard Möller signalisieren vor allem eines, den Wunsch, festhalten zu wollen, wo es – außer einer beschädigten Biographie – nichts festzuhalten gibt. Mit Oliver Tolmeins Hilfestellung könnte Irmgard Möller zur Person gewordenen Stammheim-Lüge geworden sein. Sie, die einzige Überlebende der Todesnacht, hält eisern daran fest, daß es Mord und nicht Selbstmord gewesen sei. Warum aber hätte ein staatliches Mordkommando eine Zeugin am Leben lassen sollen?

Das Komplement zur Mordthese könnte auf seiten des Staates die Behauptung sein, daß sich Wolfgang Grams in Bad Kleinen selbst getötet habe. Aber warum ist der damalige Bundesinnenminister Seiters eigentlich zurückgetreten, wenn der Einsatz auf dem Bahnsteig Rechtens war? Hartnäckig hält sich noch immer das Gerücht, es gebe eine Videoaufzeichnung des Geschehens, die Seiters 1993 zum Rücktritt bewogen habe. Tote in Stammheim – Tote in Bad Kleinen, hier Mord, dort Selbstmord, Nachfragen sinnlos, die Versionen sind nach wie vor unantastbar. Die Identitätskrücken scheinen immer noch nicht fortgeworfen werden zu können. Wolfgang Kraushaar