Piotr blieb einfach weg

■ Hundert Zeilen Kuhlbrodt: Von wehmütigen Männern, die trinken und sich schämen. Vor allem Männer leiden an der "slawischen Krankheit". Ihre Geschichten wirken meist sehr sympathisch.

Piotr blieb einfach fort, ohne sich zu melden. Hatte angefangen, das Parkett abzuschleifen, sah auch prima aus, nur dann war er plötzlich weg. Die Maschinen standen noch in der Wohnung, in die ich eigentlich schon einziehen wollte. War dann wieder nichts. Oft versuchte ich, Piotr anzurufen. Manchmal ging auch jemand an den Apparat. Ein betrunkener Kumpel von Piotr sagte, er wolle ihn gleich holen. Dann legte er auf. Manchmal legte er auch den Hörer neben die Gabel. Stundenlang versuchte ich vergeblich, ihn wieder anzurufen. Immer besetzt.

Manchmal erwischte ich dann doch jemanden. Half auch nichts. Zu früh hatte ich den Namen Piotr gesprochen, was unmittelbar dazu führte, daß der unbekannte Mann am anderen Ende der Leitung, irgendwo in Moabit, in einer Wohnung, die ich mir sehr klischeehaft osteuropäisch vorstellte, auflegte. Manchmal begann das Telefongespräch auch ganz vielversprechend. Der andere schien mich wiedererkannt zu haben und lallte fragend meinen Namen. Als ich meinen Namen bestätigte, war es wieder zu Ende.

Da dachte ich mir auch Tricks aus. Irgendwann, als wieder jemand mit schwerer Zunge in den Apparat sprach, sagte ich zum Beispiel: „Stopp!“ Half auch nichts.

Ich schwankte zwischen Verärgerung und Besorgnis. Was passiert da wohl? In jedem Fall scheint das schwermütige Alkoholtrinkeruniversum in Moabit zu beginnen. Da sitzen wehmütige Männer und trinken und schämen sich.

Vielleicht nimmt sein Freund auch den Hörer ab, und Piotr ist es, der in melancholischer Entschlossenheit den Hörer wieder auf die Gabel legt, weil er in seiner Scham jeden Kontakt nach außen vermeiden will, um sich betrunken im Kreis seiner betrunkenen Freunde dann zu Tode zu schämen. Damit alles zwischen ihm und der Welt dort draußen zusammenbricht. Das verstehe ich eigentlich sehr gut. Darüber hat Dostojewski auch viel geschrieben.

Das nennt man „slawische Krankheit“, sagt meine östliche Tante. Vor allem Männer leiden an der slawischen Krankheit. Ihre Geschichten wirken meist sehr sympathisch.

Die meisten deutschen Trinker dagegen nerven und krakeelen oft ganz fürchterlich. Viele sind auch eher still wie mein ehemaliger Hausmeister, der dann so allein wie viele vor dem laufenden Fernseher starb.

Nach ein paar Wochen meldete sich Piotr dann doch wieder und erzählte eine sehr komplizierte, spannende Geschichte. Er fragte auch noch, ob ich ihm Hasch besorgen konnte. Er wollte tatsächlich Alkohol mit Hasch vertauschen, vergaß das dann aber wieder.

Nach zwei Monaten holte Piotr die Maschinen mit einem deutschen Freund im schicken Mercedes wieder ab. Danach habe ich nichts mehr von ihm gehört. Detlef Kuhlbrodt

wird fortgesetzt